ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolfgang Hofmann/Kristina Hübener/Paul Meusinger (Hrsg.), Fürsorge in Brandenburg. Entwicklungen - Kontinuitäten - Umbrüche (Schriftenreihe zur Medizingeschichte, Bd. 15), be.bra Wissenschaft Verlag, Berlin/Brandenburg 2007, 476 S., geb., 29,90 €.

Die Erforschung der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland ist seit den 1990er Jahren um verschiedene Perspektiven bereichert worden. Dazu gehört die ,Entdeckung' der Wohlfahrtsstadt, wobei man diese Perspektivenerweiterung etwas weiter fassen kann. Denn die Ausbildung einer spezifischen Wohlfahrtskultur war nicht nur eine kommunale Angelegenheit, sondern zeigt auch im Länder- bzw. mit Blick auf Preußen im Provinzenvergleich deutliche Unterschiede auf. Insofern ist es zu begrüßen, dass im vorliegenden Sammelband mit Brandenburg eine weitere Region auf ihr wohlfahrtsstaatliches Profil in den verschiedenen politischen Bezügen des 19. und 20. Jahrhunderts hin untersucht wird.

Den Sammelband eröffnet Wolfgang Hofmann, der anhand der Begriffe der ,,Fürsorge für Hilfsbedürftige" und der ,,öffentlichen Daseinsvorsorge" die großen Entwicklungslinien der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland darstellt und auf den Untersuchungsraum bezieht. Der anschließende erste Abschnitt ,,Institutionelle Vorläufer einer modernen Sozialfürsorge" stellt fünf unterschiedliche Fürsorgebereiche während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik in Brandenburg vorrangig aus der Perspektive der Provinzialverwaltung dar. Im ersten Beitrag dieser Sektion beschäftigen sich Wolfgang Rose und Dietmar Schulze mit der Unterbringung der sogenannten Wanderer sowie krimineller Geisteskranker. Karin Römisch untersucht die Hebammenlehranstalten und Schwangerenberatung. Es folgt ein Beitrag von Thomas Beddies zur Jugendfürsorge in der Weimarer Republik. Anschließend analysiert Axel C. Hüntelmann die Gesundheitspflege mit dem zeitlichen Schwerpunkt auf der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg.

Der zweite Abschnitt ,,Konfessionelle, freie und private Fürsorge in Brandenburg" legt den Schwerpunkt auf evangelische Einrichtungen. Der erste Beitrag von Uwe Kaminsky führt in das breite Untersuchungsfeld ein, indem er die Entstehung des Provinzialausschusses für Innere Mission zur organisatorischen Zusammenführung der evangelischen Einrichtungen in Brandenburg entwickelt. Die Geschichte zweier evangelischer Anstalten, nämlich das Oberlinhaus in Nowawes zwischen Potsdam und Berlin sowie das Naemi-Wilke-Stift in Guben, werden anschließend von Friedrich-Wilhelm Pape und Wolfgang Rose dargestellt. Es folgt ein thematischer Wechsel zum 1924 errichteten Provinzialverband Brandenburg für jüdische Wohlfahrtspflege und seinen Wohlfahrtseinrichtungen bis zu seiner Zerschlagung im ,Dritten Reich' (Annette Hinz-Wessels). Anschließend analysieren Petra Fuchs, Petra Liebner und Marco Schulz die Entstehung der Heilstättenbewegung in Brandenburg am Beispiel dreier Lungenheilstätten. Führend in der Tuberkulosebekämpfung beteiligt waren private Organisationen wie der ,,Volksheilstättenverein vom Roten Kreuz" sowie der ,,Berlin-Brandenburger Heilstättenverein", deren Aktivitäten die Entstehung von zwei der untersuchten Anstalten bewirkte. Mit einem bislang nur selten behandelten Thema beschäftigt sich Wolf Refardt, der auf die Fürsorge des 1852 wiederhergestellten evangelischen Johanniterordens eingeht, der im Gebiet der preußischen Provinz Brandenburg neun Krankenhäuser gründete. Es folgt ein Beitrag von Andreas Ludwig über Stiftungen für soziale Für- und Vorsorge in Charlottenburg während des Kaiserreiches, das aufgrund der Urbanisierungsdynamik seine Einwohnerzahl von 20.000 (1871) auf 306.000 (1910) erhöhte. Stiftungen lieferten mit Blick auf die Gesamtausgaben für die Armenfürsorge nur einen geringen Beitrag, waren aber in einzelnen Feldern dennoch von großer Bedeutung, so das Fazit von Ludwig. Von Charlottenburg geht es anschließend nach Templin zum dortigen 1854 gegründeten ,,Rettungshaus". Annette Hinz-Wessels schildert in ihrem zweiten Beitrag die Krise der Fürsorgeerziehung am Ende der Weimarer Republik am Beispiel eines 1932 gegen sieben Erzieher dieser Einrichtung geführten Prozesses, denen körperliche Misshandlungen sowie sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde.

Die dritte Sektion zum ,,Sozialen im Wandel" eröffnet ein Aufsatz von Marcel Boldorf, in dem die Auswirkungen der Systembrüche zwischen Weimarer Republik und DDR-Länderreform auf die Fürsorge in Brandenburg untersucht werden. Boldorf gelangt dabei zu dem wichtigen Ergebnis, dass bei allen Abbrüchen in der Fürsorge doch Kontinuitätslinien, etwa im Zwang zur Arbeit, zu beobachten sind. Um Kontinuitätslinien, aber auch der Abkehr von den ,,Weimarer Traditionen" in den 1950er Jahren geht es auch im folgenden Aufsatz. Darin analysieren Christoph Bernhardt und Gerd Kuhn die Jugendhilfe im Sozialismus von 1945 und 1989. Im Anschluss stellt Thomas Müller die interessanten Ergebnisse eines komparatistischen Forschungsprojekts zur Geschichte der psychiatrischen Familienpflege in Deutschland und Frankreich von 1850 bis 1914 mit Bezug auf die Provinz Brandenburg vor, die im Bereich der Familienpflege einen hohen Entwicklungsstand aufweisen konnte. Den Abschluss bildet ein Beitrag von Paul Meusinger, der in einem großen Überblick die Entwicklungen der Sozialleistungen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert zusammenfasst.

Es ist hier nicht der Raum, die hier nur kurz angesprochene Bedeutung der einzelnen Beiträge in ihren jeweiligen Kontexten angemessen zu würdigen. Dennoch sei zumindest erwähnt, dass sich für die eingangs aufgeworfene Frage nach den Besonderheiten der Wohlfahrtsstaatlichkeit in der Region Brandenburg eine Fülle von interessanten Beobachtungen ergibt. So kann man etwa festhalten, dass der Ausbau staatlicher Fürsorge im Kaiserreich anders als im Rheinland oder in Westfalen konfessionelles Engagement keineswegs förderte, sondern begrenzte und damit die Bedeutung der privaten Wohltätigkeit insgesamt geringer als in den genannten Provinzen zu veranschlagen ist, wie vor allem aus dem Beitrag von Uwe Kaminsky hervorgeht. Interessante Unterschiede im Vergleich zur Rheinprovinz hebt auch Marcel Boldorf mit Blick auf die Entwicklung der kommunalen Daseinsvorsorge hervor, die in Brandenburg nur in den Städten gut organisiert war.

Gleichzeitig führt der Blick auf die Besonderheiten auch zu einer Schwäche dieses ansonsten sehr informativen Sammelbandes. Es fehlt eine systematisierende Einleitung oder eine abschließende Synthese. Die Beiträge weisen zudem nur in wenigen Fällen Bezugslinien untereinander auf. Das im ersten Beitrag von Wolfgang Hoffmann stark herausgehobene Begriffspaar der ,,Sozialen Fürsorge" und der ,,öffentlichen Daseinsvorsorge" entwickelt sich beispielsweise so nicht zu einer Leitperspektive, an dem es diesem Band mangelt. Die Kapiteleinteilung mildert zwar diesen Eindruck. Gleichzeitig kann die Abgrenzung der ersten beiden Sektionen zwischen einer institutionellen und einer konfessionellen Perspektive aufgrund der dualen Struktur des Wohlfahrtsstaates nur bedingt überzeugen. Der Beitrag von Petra Fuchs über die Krüppelfürsorge ,,Von der konfessionellen zur ,modernen' Fürsorge für Körperbehinderte" deutet beispielsweise schon im Untertitel dieses Überschneidungsfeld an. Gleiches ließe sich auch umgekehrt für die Beiträge über die Heilstättenbewegung zeigen. Die Überschrift des letzten Kapitels ,,Das Soziale im Wandel" ist ebenfalls nicht unproblematisch, da sie leider nicht weiter erläutert wird und so unscharf bleibt. Mit Blick auf den eben zitierten und ebenfalls nicht genauer diskutierten Gegensatz von konfessioneller und moderner Fürsorge hätten dem Sammelband grundsätzlich einige terminologische Markierungen gut getan.

Zieht man ein Fazit, kann man den Sammelband trotzdem allein aufgrund seiner großen Materialfülle nur als Gewinn bezeichnen. Beeindruckend ist vor allem die Vielzahl an unterschiedlichen Fürsorgefeldern, die im Sammelband Berücksichtigung findet. Er bietet so viele Anregungen für die weitere Forschung und ist ein wichtiger Baustein für ein vertieftes Verständnis der Wohlfahrtspflege in der Region.

Andreas Henkelmann, Bochum


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