ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Kent Greenawalt, Religion and the Constitution, Vol. 2: Establishment and Fairness, Princeton University Press, Princeton, NJ/Oxford 2008, 555 S., geb., 45,00 $.

Studien zur Verfassungspraxis und -geschichte haben in der amerikanischen Forschungslandschaft der politisch-historischen Fächer einen vollkommen anderen Stellenwert als im kontinentalen Europa. Sie vermitteln die kontinuierliche und in der Regel strittige Maßstabsbildung am Verfassungsrecht in die Human- und Sozialwissenschaften, deren Reflexion des sozialen Wandels auf diese Weise eine besonders verfassungs-, ja sogar fallbezogene Note erhält. Vor diesem Hintergrund ist auch diese Arbeit von Kent Greenawalt zu bewerten.

Weitaus stärker als den meisten europäischen Betrachtern bewusst ist, wird die gesellschaftliche Gegenwart der USA von ihrer Religionsverfassung geprägt. Dies hat tiefe historische Gründe. Die Emigranten auf der Mayflower 1620 und ihre Nachkommen in den nordamerikanischen englischen Kolonien waren mehrheitlich religiöse dissenter und Nonkonformisten, die vor Verfolgung, Diskriminierung und Marginalisierung aus der Alten in die Neue Welt flohen. Nichts war ihnen so wichtig wie die freie Ausübung ihres religiösen Bekenntnisses. Diese Mentalität beherrschte dann auch die Verfassung der USA. Die Establishment Clause des Ersten Verfassungszusatzes (First Amendment), die Teil der United States Bill of Rights von 1791 ist, stellt daher klar: ,,Congress shall make no law respecting an establishment of religion". Als Ausdruck der Beschränkung staatlicher Gewalt gegenüber individueller Freiheit schützt die US-Verfassung die freie Religionsausübung und untersagt der US-Regierung die Einrichtung einer Staatsreligion. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen, durch die konfessionelle Spaltung und das komplexe staatskirchenrechtliche Instrumentarium geprägten historischen Erfahrung in der Neuzeit (auf der Grundlage des Westfälischen Friedens von 1648) steht dieser Rigorismus in der Trennung von Staat und Kirche für einen ganz anderen verfassungs-, konfessions- und gesellschaftspolitischen Weg. Für die religiöse Praxis in den USA jedoch scheint er den optimalen Rahmen abzugeben. Über 90 Prozent der Amerikaner, so Kent Greenawalt, bezeichneten sich als gläubig. Mehr als die Hälfte der Amerikaner besuche regelmäßig die Gottesdienste der reinen Freiwilligkeitskirchen, von denen nicht wenige aus deutscher Sicht als Sekten oder religiöse Gemeinschaften angesehen werden können. Wie auch immer: Kein/e amerikanische/r Präsidentschaftskandidat/in könnte es sich erlauben, ostentativ kritisch zu religiösen Bindungen zu stehen bzw. sogar agnostische Neigungen zu betonen. Daher verwundert es nicht, dass die Rechtsprechung des US Supreme Court zu Establishment-Fällen wie der Frage nach der Verfassungsgemäßheit des Schulgebets oder der Berufung auf die einige Nation ,,under God" im amerikanischen Pledge of Allegiance nicht nur unter Juristen, sondern auch in der US-Öffentlichkeit extrem kontrovers diskutiert wird. Greenawalt schreibt also nicht über eine trocken-theoretische Materie von hoher Abstraktion, sondern über den Stoff, aus dem die neuen, religiös codierten Kulturkämpfe unserer Zeit sind. Ob und inwieweit es der fundamentalistisch-evangelikalen Neo-Orthodoxie, einem der maßgeblichen gesellschaftlichen Stützpfeiler der Präsidentschaft von George W. Bush, gelingt, die Praxis der Verfassungsinterpretation im eigenen Sinn zu beeinflussen, zeigt mit seltener Eindringlichkeit, dass und warum Verfassungsfragen immer auch politische Machtfragen sind.

Der Verfassungsjurist Kent Greenawalt, Jahrgang 1936, Professor an der Columbia Law School und ausgewiesener Spezialist für Verfassungsrecht und Supreme-Court-Rechtsprechung zu Fragen der religiösen Freiheit, gibt im zweiten Band seiner Gesamtdarstellung des amerikanischen Verfassungsrechts zum Thema ,,Religion and the Constitution" in 25 Kapiteln einen empirisch dichten und analytisch brillanten Überblick zur Establishment-Problematik. Nach einer Einleitung zur Geschichte der Norm und zu ihrem Kontext in der Konstituierungsphase der amerikanischen Union führt er souverän und immer sehr gut verständlich auch für den juristischen Laien in die Entwicklung der Hauptfallgruppen ein, zu denen u.a. Fälle zum Schulgebet, zum Religionsunterricht, zur Militärseelsorge und zur staatlichen finanziellen Unterstützung konfessioneller kirchlicher Einrichtungen gehören.

Greenawalts Stil verkörpert in der Klarheit der Argumentation und Sprache die Vorzüge amerikanischer Verfassungsrechtsreflexion, die sich immer als lebendiger Teil des demokratischen Verfassungsprozesses in einer sich anhand ihrer soziopolitischen Konflikte diskursiv selbstvergewissernden und verändernden offenen Gesellschaft verstanden hat. Dazu gehört es auch, einfache, aber fundamentale Grundsätze transparent zu machen. Der Ernst, mit dem Greenawalt immer wieder auf die möglichen Einschränkungen der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Individuums hinweist und diese klar ablehnt, dokumentiert nicht nur sein historisches Bewusstsein für die Situation und Motivation der religiösen dissenter im 17. Jahrhundert, sondern artikuliert einen zentralen Zug im amerikanischen Verfassungsverständnis: die Neigung zum unbedingten Schutz des Individuums und seiner Überzeugungen: ,,Man hat oft eingewandt, dass es in Ländern wie England und Schweden Staatskirchen und religiöse Freiheit gebe. Ohne Zweifel kann ein Land über ein hohes Maß an Freiheit neben einer Staatskirche verfügen, aber das Höchstmaß an religiöser Freiheit kann dort verwirklicht werden, wo es keine Staatskirche gibt." (S. 5, Übers. d. Verf.). Was Greenawalt unter Nonestablishment Values (S. 6) versteht, also unter Werten, die sich in dem Verzicht auf ein staatlich sanktioniertes oder gefördertes Bekenntnis äußern, gehört zum Kern amerikanischen Verfassungsrechts. An erster Stelle steht dabei der Schutz der religiösen Gewissensfreiheit (S. 7f.) in jeder Beziehung: Schutz der freien Bekenntniswahl, Schutz der öffentlichen Ausübung des Bekenntnisses, Schutz vor direkter und indirekter Diskriminierung durch Bekenntnisbindung, Schutz vor zwangsweiser Teilnahme an bestimmten religiösen Praktiken. An zweiter Stelle rangiert die Beförderung der bzw. Befähigung zur Wahrnehmung von Autonomie (S. 9f.). Damit meint Greenawalt, dass in den USA die Regierung in allen Fragen des religiösen Bekenntnisses zur Beförderung bestimmter Wertvorstellungen - auch z.B. des Antikommunismus in den Hochphasen des Kalten Krieges - nicht berechtigt ist. Der US-Bürger habe ein verfassungsgemäßes Recht auf die freie Wahl: ,,Wahlfreiheit wird dann vollständig ermöglicht, wenn kein Bekenntnis gegenüber einem anderen bevorzugt und Bekenntnisgemeinschaften wie ähnlich geartete nichtreligiöse Gruppen behandelt werden." (S. 9). Ausdrücklich weist Greenawalt auf die ,,Nichtzuständigkeit der Regierung in Bekenntnisfragen" (S. 10) hin: ,,Die in die Regierung moderner liberaler Demokratien Gewählten verfügen über keine besondere Zuständigkeit in Religionsfragen. Tatsächlich lassen die Notwendigkeiten, auf die Anforderungen der modernen Lebenswelt einzugehen und im politischen Tagesgeschäft auch bezüglich ihrer Überzeugungen Kompromisse zu schließen, sie besonders ungeeignet erscheinen, tiefgreifenden religiösen Fragen nachzugehen." Daraus spricht nicht nur die traditionelle, ja reflexartige amerikanische Skepsis gegenüber zu weitgehenden Zuständigkeiten einer Zentralregierung im Sinne der checks and balances im Verfassungsgefüge, sondern auch die letztlich optimistische Überzeugung, dass in pluralistischen demokratischen Verfassungsstaaten die Anhänger der unterschiedlichsten Bekenntnisse friedlich neben- und miteinander leben können. Der dritte Nonestablishment-Wert ist für Greenawalt die möglichst weitgehende Vermeidung einer Vermischung von religiösen und politischen Machtfragen: Keine religiöse Praxis soll die politische Macht legitimieren, die Macht im Staat die Religionsausübung nicht korrumpieren können. Beide sollen relativ unabhängig voneinander ihre Ziele verfolgen: ein Postulat von einiger Brisanz angesichts der nationalreligiösen Kampagnefähigkeit des amerikanischen bible belt. Über allem steht für Greenawalt die ,,Beförderung eines Sinns für gleiche Würde unter den Staatsbürgern" (S. 12). Gute Regierungspraxis soll alle Staatsbürger ein- und niemanden aufgrund seiner religiösen Überzeugungen ausschließen. Greenawalt zufolge gibt es ein ,,grundlegendes Recht auf gleiche Würde" (S. 12).

Dass amerikanisches Verfassungsrecht in der Interpretation Greenawalts nicht direkt auf die ganz andersartigen deutschen Verhältnisse anwendbar ist, liegt nicht nur für den verfassungs- oder konfessionshistorisch Interessierten auf der Hand. Nachdenklich stimmen mag jedoch zumindest Greenawalts Hinweis, dass sich die amerikanischen Freiwilligkeitskirchen gegenüber den europäischen Staats- bzw. staatskirchenrechtlich etablierten Kirchen einer enormen Vitalität erfreuen. Seine überzeugende Gesamtdarstellung sollte deshalb für deutsche Theologen, Juristen und Historiker Pflichtlektüre sein.

Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe


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