ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Friso Wielenga, Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Waxmann, Münster etc. 2008, kart., 399 S., kart., 24,90 €.

Wer sich bislang über die wesentlichen Aspekte niederländischer Geschichte des 20. Jahrhunderts informieren wollte, musste dafür die niederländischsprachige Handbuch- und Spezialliteratur konsultieren. Deutsche Überblicke zur Geschichte der Niederlande unterschiedlichen Umfangs, so wie die von Horst Lademacher und Michael North, hatten ihren Schwerpunkt nicht in der Zeitgeschichte. Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlandestudien an der Universität Münster und selbst profilierter Zeithistoriker, hat diese Lücke nun durch eine einschränkungslos empfehlenswerte, strukturorientierte Darstellung niederländischer Innen- und Außenpolitik und politischer Kultur im 20. Jahrhundert geschlossen. Seine Monografie ermöglicht nicht nur ein Verständnis des niederländischen Wegs in die politische Moderne, sondern auf dieser Grundlage auch den Vergleich mit den deutschen Verhältnissen und ist insofern auf ihre Weise auch ein Beitrag zu den niederländisch-deutschen Beziehungen.

Wielenga hat sich für einen weiten Begriff von Zeitgeschichte entschieden und setzt mit seiner Darstellung bei den parlamentarischen Auseinandersetzungen um 1870 ein, um besser auf Kontinuitäten und Brüche in der politischen Entwicklung eingehen zu können. Kontinuität ist zugleich ein Schlüsselwort zur Charakterisierung niederländischer politischer Kultur im Allgemeinen, das Wielenga allerdings in den jeweiligen Epochenkontext stellt. Die Niederlande wurden im Jahr 1848 durch die Verfassung Johan Rudolf Thorbeckes (1798-1872) ohne größere Konflikte de jure zur konstitutionellen Monarchie und entwickelten sich in der parlamentarischen Praxis de facto ebenso unproblematisch zur parlamentarischen Monarchie. Die ,Urkatastrophe' des 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg, blieb den Niederlanden ebenso erspart wie ein revolutionärer Systembruch nach Ende des Krieges. Extremistische Massenbewegungen oder verbreitete Neigungen zum totalitären Radikalismus gab es trotz mancher Skepsis an der liberalen Demokratie in der Zwischenkriegszeit in der stark ,,versäulten" niederländischen Gesellschaft ebenfalls nicht. Die deutsche Besetzung und Gewaltherrschaft im Zweiten Weltkrieg waren mehr Trauma als Zäsur, denn der Widerstand bekräftigte die Kooperation zwischen den sozialmoralischen und lebensweltlichen ,,Säulen", die nach der Befreiung 1945 und insbesondere in den 1950er-Jahren eine neue und späte Blüte erlebten. Doch auch die ,,Entsäulung" der niederländischen politischen Kultur seit den 1960er-Jahren, ja selbst die Entwicklung zur permissiven Gesellschaft vollzog sich insgesamt ,,nicht schockartig, sondern immer nur schrittweise [...], wobei sich das Neue zumeist in ebenso gemäßigtem Tempo durchsetzte, wie das Alte verschwand." (S. 10f.) Daher seien ,,Stabilität, Kontinuität, Mäßigung und allmähliche Reformen zentrale Begriffe für die politische Geschichte der Niederlande des 20. Jahrhunderts." (S. 10) Auf welchen soziokulturellen, soziopolitischen und sozioökonomischen Besonderheiten dies beruhte und, vor allem, für welche Bereiche der Modernisierung diese Begriffe weniger am Platze sind, beschreibt Wielenga in acht Kapiteln.

Bereits seine Einleitung bietet einen guten Überblick zu den Leitthemen des niederländischen Modernisierungsgangs. U.a. geht es hier um Konstitutionalismus und Parlamentarismus ohne echten Machtkampf zwischen republikanischen Kräften der ,,Bewegung" und monarchischen Kräften der ,,Beharrung"; die langsame Industrialisierung ohne ,,manchesterliche" Exzesse auf der wirtschaftlichen Basis nach wie vor hoher Gewinne aus den Kolonien; die besondere Bedeutung konfessioneller Parteien, insbesondere das erhebliche Modernisierungspotenzial des höchst erfolgreich auf dem politischen Massenmarkt auftretenden orthodoxen Calvinismus; die ,,versäulte" Fragmentierung des Nationalbewusstseins im ,,Archipel der Verschiedenheiten" (Piet de Rooy) bei gleichzeitiger Erhöhung der sozialen Aufstiegswahrscheinlichkeit innerhalb der Säulen; die in der Mentalität pragmatischer Konfliktregulierung stattfindende Kooperation der Säuleneliten im Parlament; die allmähliche Ausweitung der Teilhabe an der politischen Nation auf Katholiken, Frauen und die Sozialdemokratie; die moralische Einigung durch den Schock der deutschen Besetzung; den ,,entsäulenden" Effekt von Verwestlichung und Massenkonsum seit den 1950er-Jahren; die außenpolitische Neupositionierung ohne Kolonien und im europäisch-transatlantischen Kräftefeld. Das zweite Kapitel stellt die politischen Akteure und Themen zwischen 1870 und 1918 dar und erläutert insbesondere die für die ,,Befriedung" zwischen Liberalen und Konfessionellen von 1917 so entscheidende Schulfrage, aber auch die Rolle der Sozialisten auf ihrem langen Weg in die politische Mitverantwortung. Im dritten Kapitel stellt Wielenga die ,,versäulte", durch politische und wirtschaftliche Steuerungskrisen gekennzeichnete Zwischenkriegszeit und ihr ,,gemäßigt konservative[s] Klima[...] christlich-liberalen Zuschnitts" (S. 17) dar, vor dessen Hintergrund der ,,autoritäre Demokrat" Hendrik Colijn als Ministerpräsident 1925/26 und zwischen 1933 und 1939 Antworten zu geben versuchte. Das vierte Kapitel über Krieg und Besatzung kann und sollte als kleine Geschichte des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden gelesen werden. Hier wird verständlich, warum die Besatzungszeit nach 1945 so prägend für die nationale Erinnerungskultur und belastend für die niederländisch-deutschen Beziehungen gewesen ist. Dies ging so weit, dass der zukünftige Gemahl der Thronfolgerin, Claus von Amsberg, im Juni 1965 in einem Interview des niederländischen Fernsehens gefragt werden konnte, ob er denn der Befreiung mit ,,denselben Gefühlen [...] wie das gute niederländische Volk an sich" (Zitat S. 374) gedenken könne. Das fünfte Kapitel zeigt die Veränderungen der politischen und sozialen Landschaft durch den ,,Wiederaufbau zwischen Erneuerung und Restauration", in dem die Neo-Versäulung neben einer ständig wachsenden Dynamik des sozialen Wandels stand und sich das kleine Land außenpolitisch nach dem endgültigen Verlust seines kolonialen Erweiterungsraums neu orientieren musste. Im sechsten Kapitel führt Wielenga in die ,,langen 1960er-Jahre" ein, die ,,Protest, Entsäulung und Partizipation" in der politischen Kultur verankerten und das Selbstverständnis des politischen Bürgers nachhaltig veränderten. In diese Zeit gehört auch die Regierung unter dem am weitesten links stehenden Ministerpräsidenten (1973-77), den es in der politischen Geschichte der Niederlande je gegeben hat: Joop den Uyl (1919-1987). Der charismatische den Uyl nahm in mancher Beziehung die Rolle wahr, die Willy Brandt in der deutschen politischen Kultur innehatte - wenn auch auf charakteristisch niederländische Weise. Das siebte Kapitel behandelt die Suche nach einem neuen politischen und gesellschaftlichen Konsens angesichts sich verändernder weltwirtschaftlicher Voraussetzungen, die den exemplarisch entwickelten modernen Wohlfahrtsstaat in Frage zu stellen begannen. Neben den insbesondere in Deutschland bestaunten Erfolgen des ,,Poldermodells" stehen die erheblichen Erschütterungen der politischen Szenerie, die durch den Fall des provozierenden Rechtspopulisten Pim Fortuyn über die Grenzen der Niederlande hinaus Aufsehen erregten.

In seiner Schlussbetrachtung hebt Wielenga einige Langzeittrends niederländischer Zeitgeschichte hervor. Die Versäulung habe einerseits dämpfend auf politische Konfliktverläufe gewirkt, andererseits die Neigung zu ,,Kästchendenken und Erstarrung" (S. 373) gefördert, die erst durch die Lebensstilpluralisierung seit den 1960er-Jahren wirklich überwunden wurde. Das Nationalbewusstsein sei sehr stark und teils bis zur Selbsttäuschung über die historische Realität der Besatzungjahre auf die Erinnerung an den Widerstand bezogen gewesen. Erst seit den 1990er-Jahren werde der Zweite Weltkrieg entschlossener historisiert. Die erfolgreichen und lange amtierenden Ministerpräsidenten Willem Drees (1948-58), Ruud Lubbers (1982-1994) und Wim Kok (1994-2002) waren alle ,,pragmatische, sachliche und auf einen Kompromiss ausgerichtete Politiker" (S. 375). Demgegenüber fordern selbstbewusster auftretende, politisch nicht mehr durch Säulenzugehörigkeit berechenbare, aber auch stimmungsabhängiger agierende Bürger von der Politik nicht nur Problemlösungs-, sondern auch Kommunikationskompetenz und Identifikation mit den Problemen an der Basis. In gewisser Weise steht auch das für das eigentümlich niederländische Nebeneinander von gemäßigter, zivilgesellschaftlicher Veränderung.

Wielengas Stärke ist seine Herausarbeitung der sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Besonderheiten der niederländischen politischen Kultur, deren schichtungsspezifischen Kern er erkennbar macht und, ohne auf diese Interpretationsrichtung explizit einzugehen, in eine Kulturgeschichte des Politischen in den niederländischen Farben einordnet.

Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe


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