ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ulrike Müßig, Die europäische Verfassungsdiskussion des 18. Jahrhunderts, Mohr Siebeck, Tübingen 2008, 167 S., brosch., 44,00 €.

Die frühe europäische Verfassungsgeschichte ist eine Entwicklung von Rechtsvorstellungen, so könnte man die These von Ulrike Müßig zusammenfassen (vgl. S. 132), und sie behandelt dabei die Verfassungsdiskussion in England, den Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert und verfolgt anschließend die Entwicklung in Europa in dem, was sie den ,,europäischen Frühkonstitutionalismus" nennt, bis in die 1840er Jahre. Dabei erscheinen ihr die Jahre 1830/31 als ,,Sattelzeit" ,,für die Rezeption der europäischen Verfassungsdiskussion im europäischen Liberalismus" (S. 127), gegenüber der die Jahre 1848/49 lediglich als zu vernachlässigendes Nachspiel erscheinen, welches das vorherrschende ,,Konsensdenken" (S. 128) und die ,,Kompromißbereitschaft" (S. 129) nur noch unterstrichen habe.

Diese Äußerungen sind allein deswegen erwähnenswert, weil einerseits, wenn denn die Jahre 1830/31 eine Kosellecksche ,,Sattelzeit" darstellen, es unverständlich ist, warum die Autorin ihr dann in ihrer Darstellung so wenig Raum einräumt - nicht einmal bis in den Titel ihrer Abhandlung hat es diese Epoche geschafft -, und sie darüber hinaus noch die bedeutendste deutsche Verfassung dieser Jahre, nämlich die von Hessen-Kassel von 1831, praktisch völlig unter den Tisch fallen lässt. Neben diesen schwer erklärlichen Versäumnissen muss betont werden, dass der europäische Liberalismus, von dem die Autorin für diese Jahrzehnte immer wieder spricht, gar nicht existiert hat. Allein in Deutschland gab es zumindest zwei Liberalismen, einen eher moderaten, weitgehend an Großbritannien orientierten und insbesondere von Pölitz vertretenen Liberalismus, der sich nach innen wie nach außen scharf von dem demokratischen Liberalismus eines Rotteck, Murhard u.a. abgrenzte, für die die Verfassung von Cadiz das leuchtende Vorbild war. Mit dem überlebten Hinweis auf eine norddeutsch-süddeutsche, protestantisch-katholische Dichotomie (S. 84) ist diesem Phänomen nicht beizukommen. Dieses Verharren in überkommenen Deutungsmustern mag andererseits darin begründet sein, dass die Autorin, überbordender Fußnoten zum Trotz, neuere Forschungsergebnisse nur sehr sporadisch zur Kenntnis genommen hat. Nur so ist ihre Betonung von Konsens und Kompromiss sowie verfassungsrechtliche ,,Offenheit" in einer Zeit zu verstehen, die in Europa von Verfassungskämpfen gekennzeichnet war und schließlich mit der Revolution von 1848 die bedeutendste Zäsur der europäischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts markierte.

Man mag dagegen einwenden, dass das alles ja nicht das eigentliche Anliegen der Autorin sei, das doch dem Titel der Darstellung zufolge im 18. Jahrhundert liegt. Doch wenn man hier immer noch von Lockes ,,Rechtfertigung der Glorious Revolution in seinen Treatises of Government" (S. 13) liest, was Peter Laslett bereits vor einem halben Jahrhundert widerlegt hat, oder über Montesquieu als Autor der ,,checks and balances" (S. 16), über die er doch nie geschrieben hat, oder das William Blackstone ähnlich wie de Lolme vorgegangen sein soll (S. 18), obwohl tatsächlich de Lolme erst nach Blackstone geschrieben hat, dann wundert es angesichts dieser und weiterer Fehler nicht, dass man letztlich über die englische Verfassung im 18. Jahrhundert nichts wirklich Substantielles erfährt.

Leider wird es mit dem Kapitel über die Vereinigten Staaten nicht besser. Der Leser reibt sich verwundert die Augen über Behauptungen wie jene, dass der Präsident ,,durch Wahlmänner direkt vom Volk gewählt" wird - was bereits logisch falsch ist - oder er eine ,,Rechenschaftspflicht gegenüber dem Kongreß" hätte oder ,,ein suspensives Veto" besäße (alle S. 27). Es sind nicht nur diese unzutreffenden Behauptungen, sondern selbst das allerdings nur theoretisch Richtige, etwa die Feststellung, ,,eine Normenkontrollklage" habe ,,keinen Eingang in den Verfassungstext von 1787" gefunden (S. 31) - eine Behauptung, die insofern ins Leere läuft, als dem amerikanischen Verfassungsrecht bis heute das Institut der Normenkontrollklage fremd ist - und schließlich die völlige Ausklammerung des Verfassungsdiskurses auf Einzelstaatsebene, die verhindern, dass die Autorin zum eigentlichen Kern des amerikanischen Verfassungsdiskurses im ausgehenden 18. Jahrhundert vorstößt.

Da mögen den Leser im Gegenzug die Ausführungen über Christian Wolff und die Grundlagen des liberalen Rechtsstaats in der Philosophie Kants (S. 59-73) entschädigen. Doch insgesamt hat sich die Autorin mit dieser ambitionierten Arbeit keinen Gefallen getan. Der Neuansatz von 1776 wird zwar angesprochen (S. 1), aber was er wirklich bedeutet und welche Wege und Irrwege die Verfassungsgeschichte in den folgenden Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten, in Frankreich - wo nicht einmal die jakobinische Verfassung von 1793 der Behandlung Wert gefunden wurde -, in Großbritannien und in Deutschland gegangen ist, wo die Konfliktlinien verliefen, was diese vier Länder dabei verbindet und was sie trennt und was der fundamentale Unterschied etwa zwischen der britischen und der amerikanischen Verfassung oder zwischen der Déclaration des droits de l'homme et du citoyen von 1789 und der Charte constitutionnelle von 1814 ist, darüber erfährt der enttäuschte Leser leider wenig bis gar nichts. Die Entstehung und Herausbildung des modernen Konstitutionalismus lässt sich auf diese Weise nicht darstellen.

Horst Dippel, Kassel


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 14. Juli 2009