Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Christian Haase/Axel Schildt (Hrsg.), DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitschrift zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 312 S., geb., 32,00 €.
Der Band ist das Ergebnis einer Tagung zur Geschichte der Wochenzeitung ZEIT, die im März 2007 von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und der Universität Nottingham ausgerichtet wurde. Zu der Tagung selbst hat Frank Bösch, Historisches Institut der Universität Gießen, einen informativen Bericht publiziert. (1) Ein Teil der Vorträge liegt nun in ausgearbeiteter Form vor. Nach den einleitenden Beiträgen der Herausgeber widmen sich Philipp Gassert, Frank Bajohr, Karl Christian Führer, Werner Bührer und Alexander Nützenadel dem Themenkomplex Aufbruch, Liberalisierung und soziale Modernisierung, ehe die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Mittelpunkt der Beiträge von Christina von Hodenberg, Eckart Conze, Constantin Goschler und Claudia Fröhlich steht, während Alexander Gallus, Christoph Klessmann und Konrad H. Jarausch die Position der ZEIT zur deutschen von 1946 (Gallus) bis zur Wiedervereinigung (Klessmann und Jarausch) analysieren. Etwas aus dem Rahmen, obwohl unter letzterem Themenbereich subsumiert, fällt Detlef Balds Untersuchung zur Rolle der ZEIT als Vorreiter bei der Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren. Und doch zeigt die Entwicklung dieser Wochenzeitung als bedingungsloser Befürworter von Adenauers Wiederbewaffnung, ja auch dem Bestreben nach Atombewaffnung der Bundeswehr, bis zu ihrer zögerlichen, teilweise ablehnenden Haltung bei der Frage der Überwindung der deutschen Teilung Ende der 1980er Jahre das ganze spannungsgeladene Spektrum ihres publizistischen Agierens. Bilderstrecken zu den genannten Themenbereichen sowie ein Appendix zu Chefredakteuren, Auflagenentwicklung und Nachlässen runden den sorgfältig editierten Sammelband ab.
Entgegen manch späterer Legende bildete die Gründungsredaktion keineswegs eine Versammlung von Neulingen. Von den ZEIT-Journalisten zwischen 1946 und 1949 hatte ungefähr die Hälfte ihr Handwerk bei den Blättern des ,,Dritten Reiches" gelernt. Ehemalige Mitglieder der NSDAP waren in der Minderheit. Im Vergleich mit anderen bürgerlichen Nachkriegszeitungen waren sie jedoch überdurchschnittlich gebildet, mit einem hohen Anteil promovierter Akademiker. Nichtsdestotrotz stand die ZEIT Anfang der 1950er Jahre publizistisch ,,weiter rechts als die CDU", wie Mathias von der Heide und Christian Wagner 2002 etwas salopp formulierten. (2) Axel Schildt nennt nun die Rückkehr der zunächst zum Schweigen verurteilten NS-belasteten Autoren in die Redaktionsräume der ZEIT ,,das schamlose Jahrfünft" (S. 20). Ehemalige Mitarbeiter der Presse- und Informationsabteilung des ,,Dritten Reiches" gaben sich die Klinke in die Hand: Walter Petwaidic setzte sich unter dem Pseudonym Fredericia für die Rehabilitierung von Carl Schmitt ein, dem Kronjuristen des NS-Regimes. Hans-Georg von Studnitz hetzte gegen die Nürnberger Nachfolgeprozesse. Seine Artikel, so Schildt, ,,stellten eine einzige Weißwäsche der Angeklagten aus Diplomatie und Wirtschaft und eine Kampagne für eine allgemeine Amnestie dar" (S. 18). Schließlich folgte Ribbentrops Pressechef, der Vorgesetzte von Studnitz und Petwaidic, Paul Karl Schmidt alias Paul Carell, der in einem großen Artikel in der ZEIT vom 2.9.1954 unter dem Pseudonym P.C. Holm Deutschland in der Liste der Schuldigen am Ersten Weltkrieg ,,eher an letzter Stelle" einordnete und im Zweiten Weltkrieg nicht Hitler, sondern Stalin als Hauptschuldigen identifizierte (S. 20f. und 261f.). Im Nachlass des langjährigen ZEIT-Herausgebers Gerd Bucerius fand Christian Haase einen Brief Marion Dönhoffs an Chefredakteur Richard Tüngel, in dem sie sich am 4.9.1954, zwei Tage nach dem Artikel ,,P.C. Holms" bitter beklagte, da schreibe jemand in der ZEIT, ,,der bis zum Zusammenbruch jeden Tag die Lügen von Hitler und die Propaganda von Ribbentrop im AA zu einer Sprachregelung koordiniert" habe. Das sei ,,einfach zu viel" (S. 38). Dönhoff hatte schon nach einem groß aufgemachten Artikel ,,Im Vorraum der Macht" von Carl Schmitt in der Nummer vom 29.7.1954 die Redaktion der ZEIT verlassen und nach kurzem Aufenthalt in den USA ein ,,Praktikum" beim Londoner OBSERVER begonnen. Beschwerdebriefe wie die Dönhoffs prallten von Tüngel ab, der schon am 19.12.1946 in seinem Weihnachts-Leitartikel in der ZEIT das deutsche Schicksal mit dem der Juden verglichen hatte: ,,Wir sind heute in einer ähnlichen Lage wie die Juden [...] auch Deutschland ist heute besetzt [...] und [wir] sind verhasst in der Gemeinschaft der Völker." (3) Alexander Gallus charakterisiert den damaligen Chefredakteur Tüngel als vor ,,Antikommunismus überschäumend", der die Verantwortlichen in der DDR nur als ,,Moskaus Bastard-Regierung" bezeichnete, die ,,mindestens so schlimm wie die der Nazis ist und wahrscheinlich schlimmer" (S. 237).
Erst nach einem Rechtsstreit zwischen den Gründungsverlegern Gerd Bucerius auf der einen Seite gegen Schmidt di Simoni und Tüngel auf der anderen Seite, der 1957 mit dem vollständigen Sieg von Bucerius endete, änderten sich die Verhältnisse, bewegte sich die ZEIT in Richtung jenes liberalen Mediums, das wir heute kennen. Axel Schildt spricht von 1957 als ,,zweitem Gründungsjahr des Blattes" (S. 21). Bereits während des Prozesses war Marion Dönhoff als leitende politische Redakteurin zurückgekehrt. 1957 wurde Josef Müller Marein Chefredakteur und der junge Theo Sommer, geb. 1930, stieß zur Redaktion; Sommer fungierte später von Anfang 1973 bis Ende 1992 20 Jahre lang als Chefredakteur der Wochenzeitung. Der Zeitraum von 1957 bis 1967 lässt sich als Phase des - auch ökonomischen - Aufstiegs und liberaler Profilierung definieren, ehe in der Ära Dönhoff, die schon am 18.11.1966, nachdem das ehemalige NSDAP-Mitlied Kurt Georg Kiesinger zum Kanzlerkandidaten der CDU/CSU gekürt wurde, getitelt hatte: ,,Kein Parteigenosse als Kanzler!" (S. 50), und Ära Sommer der Durchbruch zum führenden Leitmedium im Printbereich gelang. Hatte die ZEIT 1954 noch eine Auflage von 48.000 Exemplaren, so stieg diese Mitte der 1960er Jahre auf mehr als 200.000 und 1975 auf 347.000.
Die Geschichte der ZEIT in der Bonner Republik erlaubt einen exemplarischen Einblick in die Entwicklung der Außenpolitik der Bonner Republik. Die atlantischen Mittler, die in der ZEIT ihr publizistisches Forum fanden, setzten sich in den 1950er und 1960er Jahren sowohl gegen die belasteten Eliten des Nationalsozialismus als auch gegen neutralistische und gaullistische Gruppierungen durch. Ab Mitte der 1950er Jahre entwickelte sich die ZEIT auch zu einer Kritik- und Kontrollinstanz der Bonner Außenpolitik, die sie bis 1955 fast vorbehaltlos unterstützt hatte. Dabei spielte die zunehmende Entfremdung zwischen dem Verleger Gerd Bucerius, der auch CDU-Bundestagsabgeordneter war, und Kanzler Adenauer eine Rolle. Stand die ZEIT Mitte der 1960er Jahre politisch und soziokulturell zuverlässig im atlantischen Lager, so wurde diese Haltung durch den Vietnam-Krieg zunehmend erschüttert. Vietnam untergrub den antikommunistischen Konsens, der Liberale und Konservative lange vereinte. Philipp Gassert konstatiert: ,,1968/69 ging die amerikanische Periode der ZEIT zu Ende." (S. 81) Die Gefahr für den Weltfrieden schien nun weniger von der auf Status-quo-Stabilisierung abzielenden Sowjetunion auszugehen als von dem blutig fehlgeschlagenen Experiment demokratischen ,,nation buildings" in Südostasien. Tenor und Ausrichtung der Artikel und Kommentare halfen, die außenpolitischen Konzepte der Bonner Republik der Realität der Blockkonfrontation anzupassen. Mit Hilfe globaler Kontakte gelang es, neue Ideen frühzeitig vorzustellen und sie in öffentlichen Debatten auf ihr Reformpotential für die Bundesrepublik Deutschland hin zu untersuchen. Dieser internationale Forumscharakter der Zeitung spiegelte sich von der Atomwaffenfrage bis zur Unterstützung der Ostverträge und Anerkennung der DDR. Darüber hinaus standen von der Bildungsreform über die Stützung der marktwirtschaftlichen Wirtschaftstheorie bis hin zum sog. Historikerstreit in den 1980er Jahren über die Frage der Singularität von Auschwitz fast alle gesellschaftspolitisch kontroversen Themen zur Debatte. Ausgewiesene Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler publizierten als gefragte externe Experten. Eine herausragende Sonderrolle spielte die Rezeption des Gleichgewichts- und Stabilitätsparadigma der Denkschule Henry Kissingers. Dieses beeinflusste die sicherheits- und deutschlandpolitischen Vorstellungen, die die ZEIT in enger Verbindung mit der Regierung Schmidt vertrat. So unterstützte die Zeitung den von Schmidt initiierten Nato-Doppelbeschluss über die Stationierung atomarer Mittelstreckenwaffen, der sicherstellen sollte, dass die Bundesrepublik über den Einsatz von Atomwaffen in Europa ein Mitspracherecht besitzen und dieses längerfristig in Entspannungsbemühungen einfügen konnte. Die Rezeption der Ideen Henry Kissingers, die den absoluten Vorrang der Staatssouveränität und des Gleichgewichts in der internationalen Politik forderten, führte jedoch bis Ende der 1980er Jahre zu einer eingeschränkten Wahrnehmung der Transformationsprozesse in den sog. Ostblock-Staaten und einer Abwertung der Bürgerrechtsbewegungen in Polen und der DDR. So kommt Christoph Kleßmann zu dem Schluss, dass noch 1986 ein fast schon positives DDR-Bild in den ZEIT-Artikeln gepflegt wurde, in dem kritische Stimmen weitgehend gefehlt hätten. Kleßmann moniert eine ,,partielle westdeutsche Wahrnehmungsblockade gegenüber den Erosionserscheinungen und vor allem den mühseligen Aktivitäten der Dissidenten im Ostblock, im diktatorischen System einen aufrechten Gang zu praktizieren". (S. 278) Erst nach dem Mauerfall ließen sich die Journalisten der ZEIT im Unterschied zu vielen Unbelehrbaren durch die Wucht der Ereignisse davon überzeugen, dass der demokratische Aufbruch in der DDR von ihnen eine andere Politik und Berichterstattung verlange und fand ihre - nun auch selbstkritische - Stimme wieder. ,,Darin, diesen von der Geschichte erzwungenen Lernprozesse nicht nur vollzogen, sondern auch publik gemacht zu haben, besteht der positive Beitrag der ZEIT zur Wiedervereinigung", resümiert Kleßmanns Kollege Konrad Jarausch.
Trotz teilweise wohl unvermeidlicher inhaltlicher Überschneidungen einzelner Beiträge und rudimentärer Fehler - so war Kurt Georg Kiesinger nicht, wie Christian Haase irrtümlich schreibt, ,,Mitarbeiter von Paul Karl Schmidt aus der Informations- und Presseabteilung des Ribbentropschen Auswärtigen Amtes" (S. 50), sondern kooperierte in propagandistischen Fragen als stellvertretender Leiter der rundfunkpolitischen Abteilung des AA mit dem Pressechef Paul Karl Schmidt eben dieses Amtes (4) - haben die beiden Herausgeber Axel Schildt und Christian Haase einen überaus aufschlussreichen Sammelband mit kompetenten Beiträgen ausgewiesener Experten vorgelegt.
Wigbert Benz, Karlsruhe
Fußnote:
1 Vgl. Frank Bösch, Tagungsbericht: Die Wochenzeitung ,,Die Zeit" und die Bonner Republik. 23.03.2007-24.03.2007, Hamburg, in: H-Soz-u-Kult, 13.04.2007, < http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1533> [12.5.2009].
2 Mathias von der Heide/Christian Wagner, ,,Weiter rechts als die CDU". Das erste Jahrzehnt der ZEIT, in: Lutz Hachmeister/Friedemann Siering (Hrsg.), Die Herren Journalisten. Die Elite der deutschen Presse nach 1945, München 2002, S. 165-184.
3 Von der Heide/Wagner, ,,Weiter rechts als die CDU", S. 165.
4 Wigbert Benz, Paul Carell. Ribbentrops Pressechef Paul Karl Schmidt vor und nach 1945, Berlin 2005, S. 35.