Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Dietmar Molthagen, Das Ende der Bürgerlichkeit? Liverpooler und Hamburger Bürgerfamilien im Ersten Weltkrieg, Wallstein Verlag, Göttingen 2007, 456 S., geb. 42,00 €.
Dietmar Molthagens Studie über das ,,Ende der Bürgerlichkeit" beschäftigt sich mit einer viel diskutierten Frage der Bürgertumsforschung: Kann man im 20. Jahrhundert noch vom Bürgertum sprechen? Löste sich das Bürgertum als ,,kulturelle Vergesellschaftung" von Mittelklassen auf oder sollte man eher von einem Formwandel des Bürgertums sprechen? Molthagen nimmt in seinem Buch die erste Etappe des ,,Zeitalters der Katastrophen" (Hobsbawm) in den Blick, den Ersten Weltkrieg. Er untersucht das Kriegserleben und die Kriegsbewältigung bürgerlicher Familien und beschäftigt sich dann mit der Frage, ob man einen Niedergang von ,,Bürgerlichkeit" im Sinne eines Ensembles von Werten und kulturellen Praktiken feststellen kann. Die Arbeit ist als asymmetrischer deutsch-britischer Vergleich angelegt - ,,asymmetrisch" deshalb, weil die erkenntnisleitende Fragestellung sich auf das deutsche Bürgertum bezieht, während die britische middle class gewissermaßen als Kontrollgruppe dient. Die Darstellung selbst ist aber durchaus gleichgewichtig. Molthagens Quellenbasis besteht aus umfangreichen Briefnachlässen von sieben Familien aus Liverpool und fünf Hamburger Familien der Zeit zwischen 1914 und 1918/19. In den Briefen zwischen den als Soldaten oder Krankenschwestern an oder hinter der Front stationierten Familienmitgliedern und ihren zuhause gebliebenen Angehörigen, entsteht ein ungewöhnlich dichtes Bild der Lebens- und Deutungswelt des Bürgertums.
Molthagens Monographie ist in drei thematische Blöcke gegliedert. Im ersten Teil geht es um das Kriegserleben der Hamburger und Liverpooler Bürgerfamilien. Im Mittelpunkt stehen die Erfahrungen der Soldaten ,,im Feld" und der von den Auswirkungen des Krieges geprägte Alltag in den beiden Vergleichsstädten sowie der Austausch und die gegenteilige Anteilnahme zwischen den Familienangehörigen an der Front und in der ,,Heimat". Die Wahrnehmung und Darstellung der Briefschreiber gleicht Molthagen sorgfältig mit den Befunden der historischen Forschung ab. Im zweiten thematischen Block beschäftigt sich der Autor dann mit der Bedeutung ,,kriegsspezifischer Sinnstiftungsangebote" für die Bewältigung des Kriegserlebnisses. Molthagen konstatiert, dass die Hamburger und Liverpooler Bürger in ihren Briefen eine ausgeprägte Begeisterung für das Militärische an den Tag legten, auch wenn sie sich wenig mit den Inhalten der Kriegspropaganda auseinander setzten (S. 194, 206, 233f). Am Sinn des Krieges und der Notwendigkeit, ihn bis zu einem siegreichen Ende zu führen, äußerten sowohl die englischen als auch die deutschen Bürger in Uniform und ihre Angehörigen bis zum November 1918 kaum Zweifel. Selbst der Kriegstod von Angehörigen sei ,,überraschend problemlos verarbeitet und mit Sinn versehen" worden (S. 250). Nur in einem Falle sei diese Bewältigung nicht gelungen, habe eine Hamburger Briefschreiberin dem Tod ihres Sohnes keine positive Sinnstiftung abgewinnen und damit ,,ihr leidvolles Kriegserlebnis" nicht ,,geistig verarbeiten" können (S. 242f, 406). An dieser Stelle mag man sich über Molthagens merkwürdiges Konzept einer sinnhaften Bewältigung von Kriegstraumata wundern. Wenn der Tod eines nahen Angehörigen in den Briefen als heldenhaftes Opfer fürs Vaterland gerahmt wird, hat dies wohl eher mit Verdrängung als mit Bewältigung zu tun. Hier wird auch deutlich, dass der Quellenwert der Korrespondenzen in dieser Hinsicht eher beschränkt ist: Die Verfasser der Briefe äußerten gerade, wenn es um das Erleben des Krieges ging, wohl nicht unbedingt ihre tatsächlichen Empfindungen und Erfahrungen. Molthagen hat diesen Umstand durchaus reflektiert und in seinen Motiven dargelegt. Doch verwundert es etwas, dass der Autor nicht auf spätere Selbstäußerungen über die Kriegszeit zurück gegriffen hat, die auch für einige der Briefschreiber offenbar vorhanden sind.
Der dritte Teil der Studie widmet sich schließlich den ,,traditionellen Sinnstiftungsangeboten" und ihrer Bedeutung bei der Bewältigung des Kriegserlebnisses. Erst hier kommt das eigentliche, im Titel angekündete Thema der Arbeit ins Blickfeld der Betrachtung, die Frage nach dem Ende der Bürgerlichkeit. Unter ,,Bürgerlichkeit" versteht Molthagen eine Reihe kultureller Praktiken, Normen der Lebensführung und Wertorientierungen, die dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts zugeschrieben werden: das ,,bürgerliche" Familienmodell, das auf der Rollentrennung der Geschlechter basierte und der Erziehung der Kinder besonderen Stellenwert einräumte; ein ausgeprägtes Arbeits- und Leistungsethos; das klassische humanistische Bildungsideal wie auch bestimmte ,,Gewohnheiten" oder Formen der Geselligkeit. Molthagen spitzt hier sein Erkenntnisinteresse auf die Fragestellung zu: Verloren diese Ideale und Praktiken im Verlaufe des Ersten Weltkrieges ihre Bedeutung? Kann man daher von einem Ende der Bürgerlichkeit sprechen? Oder trug Bürgerlichkeit vielmehr zur geistigen Bewältigung der Kriegserlebnisse bei, so dass man von einer Kontinuität des Bürgerlichen ausgehen sollte? Die Studie kommt dabei zu einem recht eindeutigen Ergebnis. Zwar besaßen die verschiedenen Aspekte von Bürgerlichkeit im Einzelnen nicht unbedingt einen besonders hohen Stellenwert für die Bewältigung des Kriegserlebnisses. Doch in allen behandelten Punkten kommt Molthagen zu dem Schluss, dass man keinesfalls von einem Ende der Bürgerlichkeit sprechen kann. Die Briefschreiber hätten an ihrer Wertschätzung der Familie festgehalten, an geschlechtsspezifischen Normen und Methoden der Kindererziehung. Die Leitwerte Arbeit und Leistung hätten zwischen 1914 und 1918 ebenso wenig ihre Bedeutung eingebüßt, wie das bürgerliche Bildungsideal. Die hergebrachten bürgerlichen Formen geselligen Umgangs seien auch unter den widrigen Umständen des Soldatenlebens und der städtischen Versorgungskrisen aufrecht erhalten worden. Selbst an weiterhin gepflegten Gewohnheiten wie dem Sonntagsspaziergang macht der Autor die Kontinuität von Bürgerlichkeit fest.
So anregend und interessant diese Befunde auch sind, sie reizen doch zum Widerspruch. Gerade in der historischen Bürgertumsforschung sind die Ergebnisse in hohem Maße abhängig von der Operationalisierung der Schlüsselbegriffe. ,,Bürgerlichkeit" bezieht sich in der vorliegenden Arbeit auf habituelle Prägungen, von denen kaum zu erwarten ist, dass sie sich gewissermaßen über Nacht verloren. Molthagen betont selbst, dass die Briefeschreiber den Krieg als Ausnahmesituation begriffen, dass sie die Erwartung hegten, nach dem Krieg werde das Leben wieder in seine bürgerlichen Bahnen zurück kehren. Wahrscheinlich hätte die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als (in Deutschland) im Gefolge der Kriegsniederlage, der Revolution und der Inflation der Ausnahmezustand permanent zu werden drohte, mehr für das hier verwendete Begriffsdesign hergegeben. Für den Ersten Weltkrieg lassen sich sinnvollere Kriterien denken, an denen man Kontinuität und Diskontinuität von Bürgerlichkeit untersuchen könnte. Wie stand es etwa mit bürgerlichen Moralstandards wie Rechtschaffenheit und Redlichkeit angesichts um sich greifender illegaler Schwarzmarkt-Praktiken? Bürgerlichkeit kann man auch als distinguierenden Lebensstil verstehen, der auf einem Mindestmaß an materiellem Wohlstand basiert. Beinhalteten nicht die kriegsbedingten Einkommensverluste und Versorgungskrisen oder das Abwandern der Dienstboten in besser bezahlte Jobs einen Verlust an Bürgerlichkeit in diesem Sinne?
Schließlich hat eine einflussreiche historiografische Lesart dem deutschen Bürgertum attestiert, sich zunehmend von bürgerlichen - sprich: zivilen - Werten abgewandt zu haben. Gerade der Erste Weltkrieg gilt als wichtige Etappe im Prozess der ,,Entbürgerlichung" des Bürgertums, des Vordringens militaristisch-autoritärer Wertorientierungen und Denkmuster und der Ablösung liberal-bürgerlicher Gesellschaftsentwürfe durch das Ideal der ,,Volksgemeinschaft". Hier hätte auch der deutsch-britische Vergleich vielleicht interessante Erkenntnisse und Kontraste hervor gebracht. Zwar behandelt Molthagen im zweiten Teil recht ausführlich den Stellenwert militärischer Werte und Denkhaltungen, aber eben ohne Bezug zum Bürgerlichkeitsbegriff. Überhaupt haben gut drei Viertel der Darstellung wenig mit dem Titel und der Leitfrage nach dem Ende der Bürgerlichkeit zu tun. Hier geht es um die Wahrnehmung, Deutung und sinnhafte Bewältigung des Krieges und seiner Folgen. Aus dieser Frageperspektive ist die Studie über weite Strecken gelungen. Dagegen erscheint mir der Ertrag für das Leitthema ,,Formwandel oder Ende des Bürgertums" etwas mager ausgefallen zu sein.
Michael Schäfer, Dresden