ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christoph Vietzke, Konfrontation und Kooperation. Funktionäre und Arbeiter in Großbetrieben der DDR vor und nach dem Mauerbau (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A: Darstellungen, Bd. 36), Klartext Verlag, Essen 2008, 280 S., geb., 34,90 €.

In diesem Buch, der überarbeiteten Fassung seiner 2005 von der Philosophischen Fakultät der Universität Köln angenommenen Dissertation, versucht Christoph Vietzke die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit der Herrschafts- und Arbeitsbeziehungen im politischen System der DDR am Beispiel dreier Großbetriebe genauer auszuloten. Bei den ausgewählten Betrieben handelt es sich um Schwergewichte der DDR-Industrie: Carl Zeiss Jena, das Transformatorenwerk ,,Karl Liebknecht" (TRO) in Berlin-Oberschöneweide und das Eisenhüttenkombinat Ost in Eisenhüttenstadt. Im Hinblick auf die Quellenlage bietet diese Auswahl unbestreitbar Vorteile. Auch handelt es sich hier um wichtige Standorte der feinmechanisch-optischen, der elektrotechnischen und der metallurgischen Industrie, also um durchaus repräsentative Beispiele, sieht man einmal davon ab, dass sich die Situation in anderen Branchen, der Leicht- und Lebensmittelindustrie etwa, doch anders darstellte. Auf jeden Fall erfasst Vietzke mit seiner Mikrostudie einen Kernbereich der staatssozialistischen Arbeitsgesellschaft.

Die Untersuchung erstreckt sich über die Jahre 1959 bis 1965, die in politischer Hinsicht von der Massenflucht in den Westen, der brachialen Kollektivierung der Landwirtschaft und dem Mauerbau dominiert wurden. Damit taten sich zugleich Konfliktfelder auf, die, wie Vietzke zeigt, die innerbetrieblichen Beziehungen massiv beeinflussten. Für die Industriebeschäftigten erlangten jedoch auch noch die 1959 eröffnete Kampagne zur Bildung von ,,Brigaden der sozialistischen Arbeit", das 1961 unter der Devise ,,In der gleichen Zeit für das gleiche Geld mehr produzieren" eingeleitete ,,Produktionsaufgebot" und die 1963 als ,,Neues ökonomisches System der Planung und Leitung" (NÖS) begonnene Wirtschaftsreform gravierende Bedeutung, dies umso mehr, als all dies für die Arbeitseinkommen relevant wurde.

In insgesamt fünf Kapiteln (das erste firmiert allerdings gänzlich als ,,Einleitung") nimmt Vietzke das Verhalten von staatlichen Leitungskräften, Gewerkschafts- und Parteifunktionären sowie von Arbeitern in unterschiedlichen Situationen des Betriebsalltags unter die Lupe. Dabei werden, so der Autor, ,,Herrschaftsformen der DDR-Führung in Beziehung zu den Verhaltensweisen der Arbeiter gesetzt, um den Schwächen" der herrschafts- bzw. alltagszentrierten Forschungsansätze ,,zu entgehen" (S. 11). Im ersten Kapitel vertieft Vietzke diesen methodisch interessanten Ansatz, bei dem Kategorien wie Interessen, Eigensinn, Herrschaft und Arbeiterverhalten, Zusammenhalt und Abteilungspakt eine wichtige Rolle spielen. In dem Zusammenhang unterzieht er den Forschungsstand sowie die Quellensituation einer kritischen Betrachtung und stellt die drei Betriebe vor. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht die Kategorie der ,,Betriebsverbundenheit". Hier geht es vor allem um das durch einen gewissen Dualismus gekennzeichnete Verhältnis und Verhalten von Betriebsleitern und Parteisekretären. Letztere gerieten offenbar viel schneller in die Schusslinie der Kritik ,,von oben" als die Direktoren. Diese wiederum versuchten so etwas wie eine ,,Corporate Identity" zustande zu bringen, um die Interessen des Betriebes und seiner Beschäftigten besser vertreten zu können. Vietzke macht zudem auf den relativ hohen Stellenwert der fachlichen Kompetenz in diesem Machtgefüge aufmerksam. Im dritten Kapitel geht es um die Beziehung zwischen Betriebsfunktionären der mittleren Ebene und der Arbeiterschaft. Das Problem wird hier überzeugend an der Lohnproblematik festgemacht. Sie erwies sich als Dreh- und Angelpunkt eines ,,Abteilungspaktes", bei dem die beiden Seiten im Interesse von Lohnsteigerungen und Prämien zu einem Arrangement fanden. Aus diesem Kontext resultiert auch der bemerkenswerte Befund, dass die Betriebsverbundenheit der Funktionäre und der Planerfüllungspakt von Abteilungen zum Teil ,,die frappierenden Unterschiede zwischen den Beschlüssen der SED-Spitze und der konkreten Umsetzung vor Ort" erkläre. Im Zeitraum zwischen 1959 und 1965 hätten sich die Funktionäre gar ,,als größeres Hindernis für die übergeordneten Ebenen" erwiesen ,,als die Arbeiterschaft selbst" (S. 247). Das mag in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre im Zeichen der NÖS-Periode noch an Bedeutung gewonnen haben. Doch scheinen weitere Forschungen auch zu anderen Branchen und lokalen Kontexten nötig, um hierüber ein genaueres Bild zu gewinnen. Im Zentrum des vierten Kapitels steht das Wechselverhältnis von loyalitätsstiftenden Maßnahmen und Repressionsdrohung in der Zeit des Mauerbaus von 1961. Hier geraten Arbeitergruppen ins Blickfeld, denen als ,,Vorzeigebrigaden" oder in Produktionsschwerpunkten eine besondere Bedeutung zukam. Man begegnet auf dieser Ebene jenen oft informellen Formen von Interessenartikulation und -durchsetzung, die in der Literatur schon wiederholt beschrieben wurden. Allerdings macht Vietzke zu Recht auf die zumeist etwas isolierte Stellung solcher exponierten Arbeitergruppen aufmerksam. Das fünfte Kapitel ist den Beziehungen zwischen Brigaden und anderen Arbeitergruppen, zwischen Arbeitern und ,,Intelligenz", zwischen parteilosen Arbeitern und SED-Mitgliedern, sowie zwischen männlichen und weiblichen Arbeitern wie auch zwischen den verschiedenen Generationen gewidmet. Vietzke findet eine kräftige egalitäre Tendenz bestätigt, wie sie schon Wolfgang Engler im Begriff der ,,arbeiterlichen Gesellschaft" zu fassen suchte. Dem widerspricht nicht, dass vor allem für Arbeiter die Existenz einer ,,Kragenlinie" außer Frage stand. Aber auch unter Arbeitern waren, so scheint es, die Gruppenidentitäten stärker als der mehr oder weniger imaginäre Status der Arbeiterklasse.

Mit dem als Titel gewählten Begriffspaar ,,Konfrontation und Kooperation" bezieht sich Vietzke auf eine Standardkonstellation der industriellen Arbeitswelt. Es wäre nützlich gewesen, etwas näher auf diesen Aspekt einzugehen, um das Beispiel der DDR mit seinen Besonderheiten vor dem allgemeinen Hintergrund industrieller Arbeitsbeziehungen und politischer Herrschaftsmechanismen zu präsentieren. Aber dies hätte vielleicht den Rahmen der Arbeit gesprengt. Schließlich ist auf ein Problem aufmerksam zu machen, das auch bei diesem Buch ins Auge springt: Angesichts einer spärlichen Quellenüberlieferung bleibt die Vielzahl der in der DDR bestehenden Klein- und Mittelbetriebe weiterhin am Rande des geschichtswissenschaftlichen Blickfeldes oder wird gar nicht davon erfasst. Das ist keine Kritik an Vietzkes Mikrostudien, sondern beschreibt einen Zustand. Insgesamt bietet das Buch eine quellenreiche und quellennahe Darstellung mit plastischen Situationsbeschreibungen und ausgewogenen systematisierenden Erörterungen.

Peter Hübner, Potsdam


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