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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Robert Muchembled, Die Verwandlung der Lust. Eine Geschichte der abendländischen Sexualität. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008, 383 S., geb., 24,95 €.

Die fast identischen Illustrationen auf dem Umschlag sowohl der deutschen wie auch der französischen Ausgabe von Robert Muchembleds Geschichte der abendländischen Sexualität der letzten 500 Jahre bringen bereits die Kernthese des Autors zum Ausdruck. Auf den Bildern wird jeweils eine junge Frau aus dem einfachen Volk von einem jungen Mann in eindeutiger Absicht körperlich bedrängt. Die ihr drohende Gewalt wird durch die abwehrende Körperhaltung der Frau deutlich gemacht, durch ihren ambivalenten Gesichtsausdruck jedoch teilweise legitimiert. Und genau dieses Bild von der Sexualität eines halben Jahrtausends in der gesamten westlichen Welt (sprich London und Paris) wiederholt Muchembled in der Analyse seiner zahlreichen Quellen: Die Männer wollten Sex, durften aber nicht, daraus entstanden Frustration und Wut, die in Folge in kulturelle Praktiken und politische Expansionsbestrebungen kanalisiert wurden und dadurch den Aufstieg Europas in der Welt begründeten.

Erst in den 1960er Jahren kam es dann zum endgültigen Ausbruch der 500-jährigen Aufstauung sexueller Wünsche. In der sexuellen Revolution 1968 wurde - laut Muchembled - die Männerherrschaft abgeschafft, und damit auch die sexuelle Scham und die moralischen Schuldgefühle. Die Frauen, so der Autor in seinem Fazit, hätten nun das Sagen und seitdem ,,sprudelt beständig eine Quelle der Lüste in Europa" (S. 60), das ,,sich von diesen Fesseln befreit" (S. 61) habe. Die Einschränkung auf Europa ist Muchembled wichtig, da er die USA, die ihm als einzige andere Referenz wichtig erscheint, von dieser Befreiung ausnimmt und dort weiterhin die Repression der Lust durch die Puritaner am Werke sieht. Dass die religiösen Kräfte in den USA mittlerweile extrem pro-Sex sind, wie es Dagmar Herzog in ihrer jüngsten Untersuchung belegt, nimmt Muchemled nicht wahr.

Im Gegenteil: Muchembled ignoriert mit diesem Buch so ziemlich alle wichtigen Untersuchungen zur Kultur-, Sexualitäts-, Diskurs- und Geschlechtergeschichte, sowie zur transkulturellen Geschichtsschreibung. So besitzt er keinen engen Begriff von Sexualität sondern setzt diesen je nachdem gleich mit den Begriffen Lust, Lebensenergie, Pornografie und sexualisierter Gewalt und behandelt Sexualität als Naturgewalt. Gleichzeitig versteht er Sex als stets genital und heterosexuell. Folglich sieht er die Gründe für homosexuelle Praktiken im 17. Jahrhundert als Ersatzhandlung ,,frustrierter junger Männer", die von den wohlbehüteten jungen Frauen ferngehalten wurden. Die historischen Hinweise zur Masturbation und verbreiteter Vergewaltigung erklärt er aus dem gleichen Zusammenhang. In seinem Kapitel zum ,,dritten Geschlecht", also über die Homosexuellen vor allem in London des 18. Jahrhunderts, wird Muchembleds heteronormativer Zug noch deutlicher. So seien die sogenannten mollies eine ,,invertierte Minderheit", eine aus der Angst der Männer erzeugte Gruppe von ,,Irrungen und Wirrungen" (S. 82). Der Autor nennt sie ,,unsichere Subjekte" (S.84), welche die ,,schwachen Charakterzüge" (S. 84) des zweiten Geschlechts aufwiesen. Und es wundert dann auch nicht mehr, dass Muchembled in dem Fazit seines Kapitels zu homosexuellen Männern diese in eine assoziative Reihe stellt mit der Zunahme von Geschlechtskrankheiten, dem verschärften Einsatz gegen Päderasten und gegen Prostitution.

Möglich wird diese Art der Geschichtsschreibung durch einen extremen theoretischen und methodischen Reduktionismus. So spricht sich Muchembled vor allem gegen die Diskurstheorie und den Machtbegriff von Michel Foucault aus, dessen historische Untersuchung zur Sexualität vor allem deren produktiven Charakter für die Herausbildung moderner Subjektivität betonte. Nach Foucault gibt es keine Sexualität an sich, sondern eine solche müsse historisch über einen Macht-Wissen-Komplex stets erzeugt werden. Erst auf diese Weise entstanden - vor allem seit dem 18. Jahrhundert - sexuelle Identitäten. Damit wendete sich Foucault explizit gegen die gerade in seiner Zeit populäre linke Repressionsthese, die Sexualität stets als unterdrückt ansah und nun, Ende der 1960er Jahre eine Befreiung dieser Fesseln proklamierte. Nach Foucault wird Sexualität aber erst durch das Reden über Sex erzeugt. Genau dagegen wendet sich Muchembled und greift dafür tief in die theoretische Mottenkiste. So bezieht er sich explizit auf Sigmund Freud, dessen Kulturthese besagt, dass die unterdrückten Wünsche sublimiert würden und als Kulturleistung wieder hervorkämen. Freuds Triebthese vermischt der Autor mit Norbert Elias Zivilisationsgeschichte von der Verfeinerung der Sitten. Allerdings reduziert Muchembled Freuds komplexe These auf diesen einen Mechanismus und wird damit weder Freuds Werk noch allem, was seit dem nach Freud entwickelt wurde, gerecht.

Was bleibt ist Muchembleds beeindruckende Quellensichtung. So betrachtet er alle möglichen literarischen Quellen, wie Briefe, Romane, Tagebücher, Theaterstücke, Gedichte und pornografische Texte, bezieht aber auch juristisches Material wie Gesetze und Gerichtsakten zu sexuellen Praktiken mit ein und analysiert schließlich noch eine Vielzahl an Bildquellen. Doch gerade sein verstreutes Material sperrt sich gegen Muchembleds lineare Erzählung von zwei Großzyklen, bestehend aus einem relativ freizügigen langen 17. und 18. Jahrhundert, dem ein ,,viktorianischer Schleier" (S. 19) folgte, der - in Europa - erst in den 1960er Jahren endgültig zerrissen wird. Der Autor löst das Problem der widersprüchlichen Alltagspraktiken, die er in den Quellen vorfindet, indem er der zunehmenden Repression immer wieder kleine Ausbrüche des Liberalismus zugesteht, sozusagen kurze Verschnaufpausen, bevor sich die geschichtlichen Ereignisse wieder in ihre vorbestimmte Bahn zu fügen haben. Durch diesen Kniff eines hin- und herschlagenden Pendels gelingt es Muchembled, die völlig auseinanderdriftenden und eigenständigen Handlungen der Menschen in der Vergangenheit unter eine Jahrhunderte andauernde Generallinie zu subsumieren, die zufällig genau in Muchembleds eigener Lebensspanne ein radikales Ende erfährt. Die sexuell aktiven Frauen der englischen Grafschaft Somerset, denen Muchembled immerhin sieben Seiten widmet, die Zeugnisse aus denen gefolgert wird, das Homosexualität doch kein Ventil für sexuelle Frustration war, die Biografie der rebellischen Lady Anne Clifford oder die ,,Schule der Mädchen" und andere pornografische Werke; all das sind mal kurzatmige Gegenstimmen, mal Stützen seiner These der zunehmenden Unterdrückung der Lust. Häufig werden freizügige Praktiken gerade deshalb Beweise seiner These, da dem Autor zu Folge gerade Verstöße gegen Verbote besondere Lust hervorbrächten. Diese Schlussfolgerungen, die weder theoretisch noch methodisch stringent sind, sondern eher einem sinnierenden common sense entsprechen, sind dermaßen dicht um das reiche historische Material gestrickt, dass es kaum möglich ist, die Quellenschau ohne die tendenziösen Kommentare des Autors würdigen zu können.

Für den Leser ergibt sich jenes Bild, demzufolge nun endlich die individuelle Freiheit errungen sei und wir in einer einzigartigen neuen Ära leben. Durch die Einführung der Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren neige sich ,,die Waage zugunsten der Frauen" (S. 52) die nun ,,die Zügel in die Hand" (S. 54) nähmen. ,,Über der Männlichkeit braut sich [...] [hingegen] ein Unwetter zusammen!" (Ebd.) Hier weiß Robert Muchembled auch zu warnen: ,,Aber gefährdet schrankenloser Genuss, der die Natur überlistet, nicht das Überleben der Menschheit?" (S. 58), und ,,Wozu noch etwas auf sich nehmen und sich anstrengen?"(S. 59). Denn Sex ohne Schuld führe zu neuen Frustrationen, aus denen Drogen und Alkoholmissbrauch resultieren können. Spätestens hier desavouiert sich Robert Muchembled als gewendeter Alt-68er und neuer Alt-Europäer, der süffisant das explizite Material aus London und Paris ordnet um am Ende jovial eine Menschheitsgeschichte zu präsentieren, die jegliche Einflüsse anderer Kulturen, sei es die italienische oder spanische im 17. Jahrhundert, die Erfahrungen des Black Atlantic seit dem 16. Jahrhundert oder andere außereuropäische Einflüsse seit dem Kolonialismus, ganz zu Schweigen von der Frauen- und Homosexuellenbewegungen in den USA in ihrer Bedeutung schlicht ignoriert.

Massimo Perinelli, Köln


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