Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Alexander Kästner/Sylvia Kesper-Biermann (Hrsg.), Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne (Editionen + Dokumentationen, Bd. 1), Meine Verlag, Leipzig 2008, 176 S., kart, 28,95 €.
Dieser Sammelband nähert sich dem Themenkomplex ,,Experten und Expertenwissen" auf vielfältige Weise. Verortet in der historischen Kriminalitätsforschung richtet sich das Augenmerk der Autor/innen des Sammelbandes auf Akteure, die maßgeblichen Einfluss auf Strafverfahren bzw. auf den Umgang mit straffällig gewordenen Personen hatten: Rechtsgutachter, Richter, psychiatrische Gutachter, Strafvollzugsexperten, Pfarrer, Amtsschösser, Gerichtshelfer/innen und Vertreter/innen der Fürsorge. Damit werfen sie einen Blick ,hinter die Kulissen' und fragen danach, wer die Personen sind, die auf Strafprozess/ Strafvollzug in unterschiedlicher Weise einwirkten, die Diskurse prägten und den institutionellen Rahmen mitgestalteten. Wer sind die Personen, deren Wissen als Expertise angesehen wurde? Was macht ihr Wissen zum Expertenwissen? Wodurch unterscheidet sich Expertenwissen von Alltags- und Erfahrungswissen und in welchen Kontexten wird auf dieses Expertenwissen zurückgegriffen? Diesen und ähnlichen Fragen spürt der Sammelband nach und macht deutlich, dass Experten und Expertenwissen nicht statische Konstanten sind, sondern innerhalb eines sozialen Gefüges ausgehandelt werden.
Alexander Kästner und Sylvia Kesper-Biermann spannen in ihrer Einleitung einen ausgezeichneten konzeptionellen Bogen um die acht äußerst heterogenen Beiträge, die sich zeitlich vom 16. bis ins 20. Jahrhundert erstrecken. Der Begriff des Experten, so führen die Herausgeber/innen aus, sei in Deutschland erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Verwendung und die Forschung über Experten habe sich bislang hauptsächlich auf das 20. Jahrhundert konzentriert. Der Sammelband will dagegen epochenübergreifend mit dem Expertenbegriff arbeiten und speziell auch Formen von Expertentum und Expertenwissen in der Vormoderne in den Blick nehmen. Alexander Kästner und Sylvia Kesper-Biermann schlagen daher eine weite Auffassung von ,,Experte" vor und betonen neben dem spezifischen Wissen, über das Experten verfügen mussten, vor allem die Notwendigkeit der Anerkennung dieses Wissens durch Dritte.
Die Beiträge selbst sind nach Art und Weise des Expertenwissens in drei Kategorien unterteilt, innerhalb dieser folgen die Beiträge einer chronologischen Ordnung. Die ersten vier Aufsätze beschäftigen sich mit Formen juristischer und medizinischer Expertise. Andrea Griesebner und Susanne Hehenberger fragen in ihrem Beitrag nach der Funktion, die Rechtsgutachtern im frühneuzeitlichen Strafprozess zukam. Anhand von normativen Quellen, Malefizprozessakten und Gutachtensammlungen nehmen sie die Gerichtspraxis des Erzherzogtums Österreich in den Blick. Sie interessieren sich u.a. dafür, über welche Ausbildung die Rechtsgutachter verfügten und inwieweit das Expertenwissen, wie es in den Rechtsgutachten zum Ausdruck kommt, von den Landgerichten bzw. den übergeordneten Justizbehörden angenommen wurde und somit für die Delinquenten/innen bedeutsam wurde. Melanie Grütter geht am Beispiel eines 1926 in Duisburg verübten Gewaltmordprozesses der Frage nach, welches Wissen vor Gericht bei von Frauen begangenen Gewaltverbrechen und Mord als Expertenwissen galt und welche (wissenschaftlichen) Disziplinen bedeutungsrelevant wurden. Sie fragt nach den Bedingungen von Expertenwissen vor Gericht, wodurch sich dieses Wissen auszeichnete, welches Wissen als Expertenwissen anerkannt und wie es legitimiert wurde. Der Aufsatz von Daniel Siemens führt ins Chicago 1900-1930 und zeigt am Beispiel das Chicago Municipal Court und vor allem am Wirken des Gerichtspräsidenten Harry Olson die Verknüpfung von eugenischer Forschung, (Strafrechts)Politik, Reformdiskurs und Ausprägung einer weißen Dominanzkultur. Daniel Siemens veranschaulicht aber auch einen einsetzenden Wandel in der Wahrnehmung von Experten in der medialen Öffentlichkeit. Wurde über die Arbeit Harry Olsons und des Municipal Court zunächst äußerst positiv berichtet, änderte sich dies in den 1920er Jahren: Widersprüchliche Aussagen bzw. offenkundige Befangenheit von Olson und anderen Experten im Strafverfahren führten dazu, dass die vor Gericht geäußerten Expertisen in der Presseberichterstattung zunehmend kritisch hinterfragt und satirisch kommentiert wurden. Die Experten hatten damit ihren Nimbus als unparteiisch und wissenschaftlich objektiv agierende Persönlichkeiten verloren. Richard F. Wetzell setzt sich in seinem Beitrag mit dem Verhältnis zwischen Medizin und Strafrecht auseinander und fragt, welche Rolle dem medizinischen Experten im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik zukam. Er untersucht vor allem den Anstieg der forensisch-psychiatrischen Gutachtertätigkeit und diskutiert, ob und wie diese Gutachten zu dem Bestreben einer Professionalisierung der Psychiatrie in Verbindung zu setzten sind.
Die Beiträge von Ulrike Ludwig, Alexander Kästner und Désirée Schauz widmen sich Formen sozialer Expertise. Ulrike Ludwig beschäftigt sich mit der Rolle kursächsischer Amtsschösser in Straf- und Supplikationsverfahren des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie hebt besonders die Bedeutung der lebenspraktischen Einschätzungen, also den Stellenwert des Alltagswissens hervor, auf welches das Expertenwissen der Amtsschösser gründete. Von Pfarrern verfasste Gutachten über den Lebenswandel von Menschen, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Kursachen Suizid verübten, stehen im Zentrum von Alexander Kästners Beitrag. Er arbeitet heraus, weshalb Pfarrer als Experten für den Lebenswandel galten, über welches Wissen sie verfügten und welche Informationen von ihnen an die Obrigkeiten weitergegeben wurden. Désirée Schauz richtet das Augenmerk auf die ,,Soziale Gerichtshilfe", die in der Weimarer Republik von der preußischen Regierung eingeführt wurde. Ihr Beitrag beleuchtet unter anderem wie die Gerichtshilfe mit den verschiedenen Stellen zusammenarbeitete bzw. in Konkurrenz zu ihnen stand. Sie widmet sich damit einer Schnittstelle von Fürsorge, Kriminalpolitik und Strafjustiz, die unterschiedliche Sichtweisen auf straffällig gewordene Personen frei gibt.
Der letzte Abschnitt, ,,Expertennetzwerke", enthält einen Beitrag von Martina Henze, in dem sie sich mit Expertenwissen über Strafvollzug im 19. und frühen 20. Jahrhundert beschäftigt. Im ersten Teil ihres Aufsatzes zeichnet sie die Herausbildung einer internationalen Vernetzung von Strafvollzugsexperten nach, die ab circa 1870 in einer Gefängniskongressbewegung mündete. Sie fragt danach, wer an diesem internationalen Wissensaustausch teilnahm und welchen persönlichen und beruflichen Hintergrund die Teilnehmer hatten. Martina Henze zeigt, wie sich mit zunehmender Verfestigung der Organisationsformen des Netzwerkes aus den zu Beginn der Bewegung relativ ebenbürtigen Teilnehmern eine Führungsgruppe herauskristallisierte, deren Vertreter ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllen mussten. Im zweiten Teil ihres Beitrags lenkt sie ihren Blick exemplarisch auf Strafvollzugsexperten in Dänemark und macht dadurch die Verzahnung von internationaler Fachöffentlichkeit und dänischer Kriminalpolitik, fachlicher Ebene und persönlichen Komponenten deutlich.
Die beeindruckende Vielfalt des Sammelbands - in Hinblick auf Formen des Expertenwissens, Untersuchungsräume, zeitlichen Rahmen und methodische Zugänge - stellt eine wichtige Bereicherung für die historische Kriminalitätsforschung und die Forschung zu Experten und Expertenwissen dar. Besonders die zeitliche Ausdehnung auf Formen des Expertenwissens in der Frühen Neuzeit ist als eine Erweiterung zum Forschungsstand zu sehen. Die meisten Beiträge folgen einem praxisorientierten Ansatz, der Experten und Expertenwissen nicht ausschließlich im fachlichen, oft akademischen Umfeld verortet, sondern eine Brücke zu jenen Menschen, Institutionen und Problemstellungen schlägt, auf die das Expertenwissen angewendet wurde und die den Gegenstand der Expertisen bildeten. Die Auseinandersetzung mit Expertenwissen und Experten wird so nicht zum Diskurs über Eliten, sondern ist fest in der kriminalitätshistorischen Alltagspraxis verankert. Schade ist lediglich, dass sich der Sammelband fast ausschließlich dem Wissen männlicher Experten widmet, obwohl sich die Herausgeber/innen dieser Lücke durchaus bewusst sind und in ihrer Einleitung einige Anregungen liefern, wie Expertinnenwissen untersucht werden könnte.
Neben diesen inhaltlichen Vorzügen weist der Band eine leserfreundliche Konzeption auf wie der Abdruck der kurzen Zusammenfassungen und ein Sachregister, das es erlaubt, auf die einzelnen Themenbereiche zuzugreifen.
Evelyne Luef, Wien