ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rechtsgeschichte ist wesentlich Juristengeschichte. Rechtsordnungen kommen und gehen, Juristen und Juristenzunft bleiben. Von ihnen wird das Recht maßgeblich gemacht, ausgelegt, angewendet und gelehrt. Selbstreflexion der Profession ist notwendigerweise Reflexion über Recht als Eigenwert und soziale Technik, über Herrschaft und ihre Legitimation sowie über die Gesellschaft, welche sie hervorbringt und ihren Gegenstand ausmacht.

Eva Schumann hat in Zusammenarbeit mit dem Forum Justizgeschichte e.V. eine Ringvorlesung an der Universität Göttingen ediert, die sich 2006/07 historischen ,,Wendemarken" (1933, 1945), Kontinuitäten und Zäsuren widmete. Dem Band geht es nicht nur um Rückblick, sondern auch um ,,Aufarbeitung" (S. 7) der Vergangenheit am Beispiel Göttingens. Dieser Anspruch wird von den Beiträgen in unterschiedlicher Weise eingelöst. Was sagt uns die Vergangenheit, und wie gehen wir mit ihr um? Hoch innovativ wirkt die Einleitung von Joachim Rückert, welcher den Zugang zu Kontinuitäten und Zäsuren aus der Sicht des Widerstandes, namentlich des Kreisauer Kreises, sucht. Dabei geht er von einem weiten Widerstandsbegriff aus, welcher aktive Bekämpfung, passive Resistenz, Schaffung von und Rückzug in soziale Nischen als Widerstandsformen sieht. Hier geht es um Beschreibung und Erklärung, nicht - wie allzu oft in der deutschen Nachkriegszeit - um Be- oder Entschuldigung. Zugleich wird aber auch deutlich: Inhaltlich finden sich mehr Zäsuren als Kontinuitäten zwischen den Programmen der Kreisauer und dem Weimarer wie dem bundesrepublikanischen Verfassungsstaat westlicher Prägung. Vor diesem Hintergrund tut ein differenziertes Konzept von ,,Aufarbeitung" not. Der Beitrag von Bernd Weisbrod zur ,,Vergangenheitsbewältigung" durch NS-Prozesse geht aus von dem Befund Adornos aus, wonach Aufarbeitung, Erklärung und Entschuldigung eigentlich den Opfern zustünden, in Nachkriegsdeutschland aber gerade umgekehrt immer von der Täterseite eingefordert worden sei. Was hat die ,,Aufarbeitung" verändert, und wie hat sie sich verändert? Aus der Fülle aufschlussreicher Beobachtungen sei hervorgehoben: Die NS-Prozesse haben den Opfern ein Gesicht gegeben, ihre Subjektstellung - als Zeugen, nicht als Ankläger - anerkannt und dadurch zugleich der Entmythologisierung der großen Zahlen entgegengewirkt: Plötzlich waren es nicht mehr unvorstellbare 1.000 oder 1.000.000 Opfer, sondern konkrete Individuen. Dieser psychologisch wie historisch wichtige Vorgang wurde allerdings jedenfalls bis zum Auschwitz-Prozess von abnehmender Akzeptanz in der Bevölkerung begeleitet: Für immer mehr Deutsche bedeutete ,,Bewältigung" der Vergangenheit die Forderung nach einem Schlussstrich. Die meisten übrigen Beiträge bleiben konventioneller. Eva Schumann hat die Personalakten der Uni Göttingen ausgewertet und dort 1933 viel Zäsur, 1945 hingegen eher Kontinuität entdeckt. Ihre Einsichten werden von Ralf Frassek am Beispiel von Karl Larenz und von Peter Derleder disziplingeschichtlich zum Familienrecht ergänzt. Werner Heun zeichnet das Emigrantenschicksal von Gerhard Leibholz akribisch nach, verzichtet aber auf jeden Versuch verallgemeinerbarer Einsichten. Und Joachim Perels stellt NS-Herrschaft und -Recht am Modell des Doppelstaats dar. Innovativer ist der Beitrag von Helmut Kramer, der Rechtsdenken und Rechtssprache als Legitimationsfassaden autoritärer Herrschaft untersucht: Juristen versuchten und leisteten die Übersetzung politischer und gesetzlicher Vorgaben in ,,fachliche", neutralisierte und dadurch entpolitisierte Dogmatik und trugen so zur Legitimation jener Herrschaft bei. Wie dies geschah, wird an zahlreichen Beispielen dargestellt. Decouvrierend sind die Beiträge zur ,,Entnazifizierung" nach 1945. Wie bescheiden sie ausfiel, zeigen Klaus-Detlev Godau-Schüttke am Beispiel des BGH und Volker Friedrich Dreckrath am Beispiel der niedersächsischen Justiz. Aufschlussreich ist schon der Hinweis auf die Grundlinien der Wiedergutmachung in der frühen Bundesrepublik, welche gleichermaßen die vertriebenen Beamten (sog. ,,131er"), die Opfer des NS-Unrechts und zunehmend auch in Entnazifizierungsverfahren belastete Personen zu rehabilitieren trachtete. Und zumeist dominierte Verdrängen (am Beispiel E.R. Huber) gegenüber Neuanfängen (am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts Thomas Henne). So entstand viel Kontinuität, aber zugleich die Möglichkeit einer neuen Zäsur, als etwa seit 1961 diese alten und neuen Funktionseliten in großer Zahl in den Ruhestand traten. Wie diese bewältigt wurde, ist ein anderes, in der Göttinger Ringvorlesung nicht untersuchtes Kapitel. Andere Lehren aus der Vergangenheit zeigt Ingo Müller am Umgang mit den ehemaligen DDR-Juristen nach 1989.

,,Anwalt ohne Recht" lautete der Titel einer Ausstellung, die dem Schicksal jüdischer Rechtsanwälte nach 1933 gewidmet war und in 36 deutschen Städten sowie im Ausland gezeigt wurde. Die beiden Bildbände sind Begleitveröffentlichungen derselben Bearbeiterin (Simone Ladwig-Winters), von denen eine das Schicksal der Verfolgten in Berlin, die andere eine Zusammenfassung der Berliner Veröffentlichung und darüber hinaus Überblicke über 23 weitere Regionen in Deutschland enthalten. Dabei ist das Gliederungsschema immer vergleichbar: Nach kurzen einführenden Darstellungen und Zahlen aus dem jeweiligen Bezirk werden Einzelbiografien vorgestellt, möglichst bebildert und mit knappem Text; am Ende stehen dann - soweit ermittelbar - sämtliche Namen der Opfer unter Hinweis auf ihr Schicksal. Dabei finden sich Ikonen der Zeitgeschichte - wie das Bild des Münchener Anwalts Michael Siegel, der von der SA mit umgehängtem Schild ,,Ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren" durch die Straße getrieben wird neben unbekannten Bildern unbekannter Menschen aus der Provinz. Hier wird eingelöst, was Weisbrod in Göttingen anmahnte: Umgang mit der Vergangenheit durch Erinnern, Vergegenwärtigen, Zurückgeben von Gesicht und Subjektivität. Dass dies so spät geschieht, wird von den Herausgebern selbst vermerkt und kritisiert. Und wie es gelingt, wirft neue Fragen auf. Die Vielzahl der Bilder von Opfern könnte geeignet sein, sie zu isolieren und auf ihre Opferrolle zu reduzieren. Dies erhöht die Distanz zwischen Tätern, Zuschauern und Opfern und nimmt als selbstverständlich hin, was alles andere als selbstverständlich war und ist. Umso dringlicher stellt sich die Frage nach den Bildern und Texten über die Anderen, die verfolgten, die ihnen dabei halfen, die bloß zuschauten oder wegschauten. Wie sah es aus, das Mitlaufen, das Mitfunktionieren, der Orientierungs- und Rechtsverlust? Die geschärften Instrumente der Sozialgeschichte könnten und sollten den NS-Alltag ein weiteres Mal beleuchten; so eindringlich, wie dies in den vorliegenden Bänden mit Blick auf die Opfer geschah. Wir kennen Roland Freisler und die Opfer. Der Abstand war gewaltig, aber er war nicht leer. Ihn zu füllen, mit den modernen Instrumenten der Forschung und dem vorhandenen Material, ist eine Lücke, deren Existenz gerade durch die hier besprochenen Bände deutlich wird.

Christoph Gusy, Bielefeld


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