ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, transcript Verlag, Bielefeld 2007, 215 S., brosch., 22,80 €.

Kein Zweifel, die Forschung zur Geschichte des demografischen Wissenschaftsdiskurses hat Konjunktur. (1) Es gibt für diesen Sachverhalt kaum eindeutigere Anzeichen, als das Erscheinen von gut zu lesenden, einfachen Gesamtdarstellungen. Ein besonders hervorstechendes, weil besonders gut lesbares und nebenbei höchst innovativ aufgebautes Werk hat der Oldenburger Historiker Thomas Etzemüller vorgelegt. Sein Thema - die Geschichte eines apokalyptischen Bevölkerungsdiskurses - ist dabei nicht nur eine Geschichte einer öffentlich geführten Debatte, sondern in einem wissenshistorisch informierten Sinne die Geschichte der wechselseitigen Durchdringung von diskursiver und wissenschaftlicher Ebene. Dabei hält sich der Autor nicht lange mit den methodischen Spitzfindigkeiten einer methodischen Begriffsbestimmung dieses Diskurses auf. Etzemüllers Ziel bleibt vielmehr eine breitenwirksame, flüssige Darstellung des Themas. Umso mehr bemüht er sich, die transnationale Dimension abzubilden und durch sein Setting adäquat zu berücksichtigen. Eigenheiten und Analogien in der deutschen Problemlage arbeitet er durch einen durchgehend systematischen Vergleich mit Schweden heraus, und zeigt gleichzeitig, dass der Bevölkerungsdiskurs ,,in Struktur und Entwicklung nationale Grenzen und politische Zäsuren übergriff." (S. 15)

Doch die eigentliche Stärke des Textes liegt sicherlich in seiner Gliederung. Etzemüller beschreibt in einer skizzenhaften Vorgeschichte die verschiedenen ideengeschichtlichen Hintergründe, durch die ,,Bevölkerung zu einer Chiffre" geronnen ist. Etzemüllers ,,Urgrund" des Bevölkerungsdiskurses setzt sich dabei aus den hoffnungsvollen Diskurslinien des Kameralismus einerseits und andererseits Malthus' demografischer Götterdämmerung des beginnenden 19. Jahrhunderts zusammen, wobei eine Anzahl früher statistischer Untersuchungen aus dem deutschen und dem schwedischen Sprachraum als Belege Pate stehen. Der Autor fasst hier in bester Foucaultscher Manier große zeitliche Blöcke homogenisierend zusammen - ein Vorgehen, das der hypothesenartigen Textstruktur geschuldet ist. Im frühen 20. Jahrhundert beginnt für Etzemüller ein weiterer Erzählstrang, der nicht mehr auf die Quantität der Bevölkerung, sondern auf ihre Qualität abzielte und damit die Etablierung von eugenischen Denkkategorien mit sich brachte. Auch hier schafft Etzemüller es wieder, die Analyse des ,,Redens über..." mit der Untersuchung der Methoden dieses Wissens zusammen zu bringen. Gerade gegenüber den unsicheren Wissensbeständen der Eugeniker, die nichts desto trotz in feste Deutungskategorien umgebaut wurden, ist eine solche Perspektive sehr gewinnbringend. Dessen ungeachtet fragt sich allerdings gerade in diesem Teil, ob der Autor nicht an Ausgewogenheit einbüßt. Zu viel bleibt in den Ausführungen über die frühe Eugenik unerwähnt. Das gilt für eine adäquate Verortung in die evolutionsbiologischen Diskurse, das gilt vor allem aber auch für die zahlreichen Gegenentwürfe zur Eugenik. Etzemüller kondensiert zu voreilig das Bild einer unvermeidbaren Entwicklungslinie einer immer feingliedriger werdenden Wissenschaftsdynamik. Zuwenig wird auch über die sozialeugenischen Bestrebungen linker Wissenschaftler gesagt. Etzemüller paraphrasiert stattdessen noch einmal diese verschiedenen Diskursstränge und fasst sie in einer Vierer-Matrix zusammen, die von den diskursiven Vektoren der Quantität und der Qualität, der Bedrohung und der Ressource aufgespannt wird. Innerhalb dieser Matrix spielten sich seit den 20er Jahren - dem Zeitpunkt, zu dem sich alle vier Elemente entwickelt hatten - demografische Diskussionen ab.

Hat der Autor bis hierher verkürzen und vereinfachen müssen, um auf ein so einprägsames analytisch-geometrisches Modell zu kommen, so ergänzt er im zweiten Teil des Buches die eigentlich Komplexität des Themas wieder. Er zeigt eindrucksvoll, wie stark diese verschiedenen Vektoren der Debatte ihrerseits miteinander verwoben sind, wie sehr sich die Diskurse gegenseitig befruchteten und aufeinander aufbauten. Hier versteht der Leser auch Etzemüllers Rekurs auf die transnationale Ebene, der es ihm durch die ständigen Vergleiche zwischen den deutschen und schwedischen Bevölkerungswissenschaftlern ermöglicht, die Sonderstellung deutscher Forscher wie Friedrich Burgdörfer zu relativieren. Auch die sehr selektive Auswahl von Fallbeispielen ermöglicht überzeugende Verallgemeinerungen, indem sie immer wieder zeigt, in welchem Maße die Ängste vor einer zu großen resp. einer zu kleinen Bevölkerung sich gegenseitig bedingten - oder wie stark Burgdörfers ,,Volk ohne Jugend" auf das ,,Volk ohne Raum" verwies.

Es verwundert nicht, dass der Autor durch diese Perspektive auch die wissenschaftlichen Brüche am Ende des 2. Weltkriegs zu relativieren vermag. Dies gelingt ihm vor allem dadurch, dass er in bestechender Art und Weise die Kulturen der demografischen Evidenzerzeugung mit in seine Untersuchung einbezieht. Zu Etzemüllers Diskursbegriff zählen die zahlreichen Visualisierungsformen von Statistik, Bevölkerungspyramiden, Kurven etc. ebenso, wie die teils exzessive publizistische und literarische Metaphorisierung der Ergebnisse demografischer Forschung. Aber auch die personellen Kontinuitäten einzelner Forscher über 1945 hinaus sind klar belegt. Die Argumentation ist dabei deutlich: Nicht die vermeintlich objektiven statistischen, sondern einzig die rassenhygienischen Ansätze der Demografen waren nach 1945 diskreditiert. Das galt allerdings ausdrücklich nur für Deutschland, wo man eugenische Inhalte nur noch in sehr implizierter Form wieder finden konnte. In Schweden - das ist hinreichend bekannt - gehörten eugenische Programme erschreckend lange zum Handlungskanon des Wohlfahrtsstaates. Und neben all dem suchte sich die bevölkerungspolitische Expertise mit den neuen Bereichen der Entwicklungshilfe hinreichend große, neue Aktionsfelder. Hier allerdings scheint Etzemüllers Geschichte einmal mehr ein wenig zu rund, zu stringent. Denn das Bevölkerungsproblem als globale Fragestellung ist bereits eine Idee von Malthus und sogar Johann Peter Süßmilch sah sich Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Problem konfrontiert, die Entwicklung der Weltbevölkerung zu berechnen. Globale Dimensionen erst in den entwicklungspolitischen Diskursen der Nachkriegszeit als Ausweichfeld für demografische Expertise einsetzen zu lassen, verkürzt wohl die tatsächliche Problemlage. Eine Vielzahl von Forschungen der letzten Jahre müssten solche Eindimensionalitäten im Prinzip unnötig machen. (2)

Doch sind der Arbeit viele Vereinfachungen nachzusehen für den ungemein flüssig geschriebenen und häufig provokanten Stil, mit dem sie die gebetsmühlenartig vorgetragenen Lamentationen der letzten Jahre über den bevorstehenden Bevölkerungskollaps auf ihre Geschichte verweist. In den verschiedensten sozialstaatlichen Debatten um Migration, Bildung und natürlich Familienpolitik finden sich immer wieder Versatzstücke einer diesen Diskurs, der nur durch den Rückgriff auf ein implizites historisches Imaginarium funktioniert. Der Untergang findet seit seiner Erfindung nicht statt und tut es im Prinzip heute weniger denn je. Die argumentative Grammatik, nach der er dennoch funktioniert, hat Etzemüller in diesem Buch eindrucksvoll dargestellt.

Heinrich Hartmann, Berlin

Fußnote:


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