ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Angel Smith, Anarchism, Revolution and Reaction. Catalan Labour and the Crisis of the Spanish State, 1898-1923 (International Studies in Social History, Bd. 8), Berghahn Books, New York/Oxford 2007, 405 S., geb., $ 89,95.

Zu den immer noch offenen Fragen der Geschichte der Arbeiterbewegung gehört die nach den Ursachen für die ungewöhnliche Stärke des Anarchismus (und des Anarcho-Syndikalismus) in Spanien bis zum Bürgerkrieg. Verschiedenste Theorien wurden zur Erklärung entwickelt. Entwurzelte und daher radikalisierte Landbewohner hätten beim Zuzug in die städtischen Industriezentren die dortige Arbeiterschaft radikalisiert, lautet eine Variante. Eine andere unterstellt, der Anarchismus sei ein Phänomen einer rückständigen Kleinindustrie, das beim Übergang zum Großbetrieb verschwinde. Eine dritte Schule der Anarchismusforschung betrachtet ihn als ein ,populistisches' Phänomen, klassenübergreifend und basierend auf liberalem Rationalismus.

Der britische Hispanist Angel Smith möchte mit seiner Studie über Aufstieg und (vorläufigen) Niedergang des Anarchismus in Katalonien zwischen 1898 und 1923 eine empirisch abgesicherte Antwort auf diese Frage - jedenfalls für Katalonien - geben. Er argumentiert, dass die meisten bisherigen Interpretationen nicht auf seriöser Sozialgeschichtsforschung basierten. Er wählt 1898 und 1923 als markante Einschnitte in der spanischen Geschichte: der ein kollektives Trauma produzierende Verlust der meisten Kolonien im Krieg gegen die USA und die Errichtung der Militärdiktatur 25 Jahre später.

Smith geht multiperspektivisch vor: Er analysiert ökonomische Prozesse, technologische Veränderungen, die Politiken des Staates, der Unternehmer und der verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung (und auch des katalanischen Nationalismus), die Geschlechterbeziehungen, die kulturellen Ausdrucksformen des Anarchismus und nicht zuletzt die Beziehungen zwischen den Akteuren. Dies ist insofern von großer Bedeutung, als traditionell Studien zur Arbeiterbewegung eher die Binnenschau pflegen, ergänzt nur um die Beziehungen zum Staatsapparat. Die wenigen Arbeiten, die die innere Entwicklung der Arbeiterbewegung auch in den Kontext der Klassenbeziehungen stellen, zeigen hingegen, wie sehr die Wahl von Strategie und Taktik, die Frage der Vorherrschaft von Radikalismus oder Reformismus auf der Linken gerade auch vom Verhalten der Unternehmer (und natürlich des Staates) abhingen.

Dies beweist sich auch in Smith' Buch. Immer wieder scheiterte der Versuch der katalanischen Sozialisten, den Einfluss der dortigen Anarchisten zu verringern, daran, dass ihre - bei aller revolutionären Rhetorik - doch auf schrittweise Reformen und Parlamentsarbeit abzielende Politik nicht viele Partner auf der Seite von Staat und Unternehmern fand. Die anarchistische Gewerkschaftsstrategie hingegen bevorzugte Mobilisierung statt Verhandlungen. Manche Historiker, so Smith, argumentieren, dass der spanische Staat Ende des 19. Jahrhunderts gar nicht anders konnte, als hart auf den Aufstieg des Anarchismus zu reagieren. Sie vergessen dabei, so seine Position, dass der Staat selbst zuvor dazu beigetragen hatte, gemäßigtere Alternativen in der Arbeiterbewegung zu schwächen. Beispielsweise wurden die Sozialisten durch die Zerschlagung der Gewerkschaften in der Textilindustrie zurückgedrängt oder der Einfluss kompromissbereiter Kräfte in der Metallgewerkschaft durch die Weigerung der Arbeitgeber zu verhandeln geschmälert. Deren extrem antigewerkschaftliche Haltung lag auch an der Schwäche des spanischen Staates, dem es nicht gelang, Verhandlungsstrukturen aufzubauen, in die Unternehmer und Gewerkschaften integriert werden konnten. Stattdessen griffen Arbeitgeber immer stärker zur Selbstjustiz gegen Arbeiteraktivisten, bis hin zu terroristischen Aktivitäten in Form von bezahlten Morden, worauf ein Teil der Anarchisten mit gleichen Mitteln reagierte. Der Mangel an institutionellen Möglichkeiten zur Konfliktlösung förderte die Anwendung von Gewalt. Der Anarchismus war somit in Barcelona auch deswegen so erfolgreich, weil dort nur Straßenproteste Druck auf Unternehmer und den Staat ausüben konnten. Parlamentsarbeit erschien aussichtslos. Der Generalstreik avancierte so zur Lösung für alle Probleme.

Smith kommt zu dem Schluss, dass einer der beiden Gründe für den Erfolg der Anarchisten die anhaltende Intransigenz von Staat und ökonomischen Eliten, und auch der Katholischen Kirche und des Militärs, gegenüber jeglicher Form von Interessenvertretung und Kompromiss mit der Arbeiterschaft war. Der zweite Grund bestand darin, dass in Barcelona ein gemeinsames soziales Milieu von linken Republikanern, Sozialisten und Anarchisten existierte, in dem sich besonders die Republikaner und die Anarchisten nahestanden. Der liberale Rationalismus fand eine tiefe Verankerung auch in der Arbeiterschaft. Viele bekannte Anarchisten waren zuvor Republikaner gewesen. Zwischen Arbeiterschaft und Kleinbürgertum waren die Grenzen fließend, es gab durch die Enge des Zusammenlebens häufig Kontakte im Stadtviertel. Verkäufer und Händler in Industriearbeitervierteln sympathisierten mit den Kämpfen der Industriearbeiter. Die enge Bebauung, die schlechte Infrastruktur und die Armut der katalanischen Arbeiterwohngegenden beförderten die Solidarität untereinander. Dies konnte zu politischen Bündnissen führen. Die linken Republikaner sahen sich dementsprechend als Vertreter des Volkes (pueblo) und Kämpfer gegen eine reaktionäre Elite. Strategisch setzten sie um die Jahrhundertwende auf eine Kombination von Militärputsch und städtischem Aufstand. Übereinstimmungen gab es auch in der politischen Semantik (und dahinter stehend im Weltbild): Beide Strömungen sahen sich im Kampf mit der Reaktion und für den Fortschritt. Die zunehmende Radikalisierung der Mittel, welche die Anarchisten einsetzten, gefährdete jedoch das Bündnis.

An der Basis war es oft schwer zu sagen, ob ein Arbeiter Anarchist, Sozialist oder Republikaner war. So beteiligten sich Viele, die bei den anarchistischen Gewerkschaften aktiv waren, an Parlamentswahlen, entgegen der Doktrin ihrer politischen Richtung, und wählten dort Republikaner (oder Sozialisten). Ebenfalls entgegen anarchistischen Prinzipien legten die meisten Gewerkschaften Barcelonas, obwohl sie sonst den Anarchisten nahe standen, Streikkassen an. Anarchisten lehnten Staatsintervention ab, aber ihre Anhänger forderten die staatliche Regulierung von Frauen- und von Kinderarbeit. Schließlich gab es das Problem der Konsumgenossenschaften, welche die Libertären ebenfalls ablehnten. Aber die Arbeiter, auch wenn sie sonst den Anarchisten trauten, wollten sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, billiger einzukaufen, zumal damals die Lebenshaltungskosten in Spaniern zu den höchsten von ganz Europa gehörten.

Hingegen standen die Anarchisten in Konflikt mit den katalanischen Regionalisten: einerseits weil diese sich eindeutig auf die Mittelschicht stützten, andererseits weil bei den Anarchisten wie generell damals bei linken Bewegungen in Europa die Ablehnung regionalistischer Tendenzen dominierte. So erschienen z. B. die Publikationen der katalanischen Anarchisten weit überwiegend auf Spanisch.

Wichtige Erkenntnisse bringt Smith auch für die soziale Basis der Anarchisten. Während Bakunin die Ärmsten und am stärksten Marginalisierten als das vorrangige revolutionäre Potential angesehen hatte, waren für die katalanischen Anarchisten die Industriearbeiter die entscheidende emanzipatorische Kraft. Smith räumt mit der Legende auf, die Anarchisten hätten sich besonders auf zugewanderte ehemalige Landarbeiter gestützt. Nicht sie, sondern einheimische Industriearbeiter lösten Streiks und Proteste aus. Die sozialistische Gewerkschaft UGT war nicht, wie immer wieder behauptet, bei Industriearbeitern besonders stark, sondern bei weniger radikalen Handwerkern. Die Anarchisten waren erfolgreicher in konfliktträchtigen Branchen (was in Barcelona die Mehrheit war) und dort, wo keine feste Gewerkschaftsbürokratie entstanden war, die die Radikalität der Basis in Massenversammlungen bremste.

Während des Ersten Weltkriegs, in einer Phase ökonomischen Aufschwungs, wuchs die anarchistische Bewegung CNT (Confederación Nacional del Trabajo) zu bisher unbekannter Stärke, auch weil sich nun an der Spitze realistische Kräfte durchsetzten, die seltener den unbefristeten Generalstreik ausriefen. Die Unternehmer reagierten auf die neue Macht der Gewerkschaft erneut mit Konfrontation, nicht mit Verhandlungen. Ein Unternehmerverband aus Barcelona rief 1918 zum Kreuzzug gegen die CNT auf. Da die von der Arbeiterschaft erhoffte Demokratisierung ausblieb, verschärften sich die Gegensätze nach Kriegsende weiter. Dazu trugen auch die revolutionären Kämpfe in weiten Teilen Europas 1919 bei. Die Regierung und die Mittelschicht rückten nach rechts. Die CNT geriet in die Defensive, auch weil das Militär intakt blieb, es also (anders als in Russland) keine Aussicht auf Revolution gab. Es wuchs die Kritik Radikaler an der eher gemäßigten Führung. Eine neue Richtung entstand in der CNT, die Terrorismus als Mittel einsetzte. Der katalanische Konflikt hatte Auswirkungen auf ganz Spanien, denn der Putsch 1923 wurde stark von der Sorge um die anhaltenden Arbeitskonflikte in Barcelona motiviert. Da war es nur konsequent, dass 1924 die anarcho-syndikalistische CNT in den Untergrund gehen musste.

Angel Smith hat eine herausragende Studie vorgelegt, die über die katalanischen Verhältnisse hinaus einen wichtigen Beitrag zum Studium der anarchistischen Bewegung darstellt. Es ist zu wünschen, dass andere Regionalstudien mit ähnlich breitem Ansatz folgen. In Zukunft sollte aber am Ende der Untersuchung wieder das bewährte Mittel der Zusammenfassung stehen, die im vorliegenden Buch leider fehlt. Die zahlreichen Erkenntnisse dieses Buches wären es wert gewesen, zu einem interpretatorischen Modell zusammengeführt zu werden.

Bernd Rother, Berlin


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