Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Biographisches Handbuch zur Geschichte der Kommunistischen Internationale. Ein deutsch-russisches Forschungsprojekt, hrsg. v. Michael Buckmiller/Klaus Meschkat, Akademie-Verlag, Berlin 2007, 484 S. + 1 CD-Rom, geb., 59,80 €.
Der Titel dieser Publikation ist etwas irreführend: Es handelt sich nicht um ein biografisches Handbuch im eigentlichen Sinne, sondern um den Tagungsband der internationalen Konferenz zur Geschichte der Kommunistischen Internationale im April 2004. (1) Diesem ist als digitales biografisches Nachschlagewerk eine CD-Rom beigefügt, auf der sich 28.626 Personeneinträge mit Biografien von 15.815 ehemaligen Mitarbeitern des Apparates der Komintern und solcher Personen befinden, die mit ihr in Verbindung gestanden haben. Tagungsband und CD-Rom sind das beeindruckende Ergebnis eines langjährigen deutsch-russischen Forschungsprojektes unter der Leitung von Michael Buckmiller und Klaus Meschkat. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Komintern gehörte seit jeher zu den randständigen Gebieten der deutschen Historiografie. Darüber hinaus war sie stets - wie Buckmiller in seinem ersten, programmatisch-forschungsgeschichtlichen Beitrag zu Recht feststellt - heftig politisch umkämpft und zudem mit dem Problem des unbefriedigenden bzw. unmöglichen Quellenzugangs belastet. Die Öffnung der Archive sorgte in den 1990er Jahren kurzzeitig für eine deutliche Belebung des Forschungsinteresses. Angesichts des deutlichen Rückgangs dieses Forschungsinteresses und der neuerlichen Beschränkungen des Quellenzugangs ist die Umsetzung eines derart ambitionierten Forschungsprojektes umso erfreulicher. Gemäß dem neueren historiografischen Trend zur Biografieforschung widmete es sich dem Apparat dieser international agierenden Massenorganisation, dessen interne Strukturen noch erstaunlich unbekannt sind. Das Ziel bestand hierbei nicht nur darin, eine möglichst vollständige Erschließung der Kaderakten und personenbezogenen Bestände des Moskauer Archivs vorzunehmen, um sich einer ,,kollektiven Biographie" der Komintern zu nähern, sondern darüber hinaus allgemein zur Historisierung der Komintern beizutragen (S. 26ff.).
In fünf Kapiteln widmen sich die Autoren Fragen, die sich bei der Beschäftigung mit Biografien von Komintern-Mitarbeitern ergeben. Im ersten Abschnitt wirft zunächst Waleri Fomitschow Licht auf die überaus komplizierte Struktur des zentralen Quellenapparates: der Personalakten der Komintern, am Beispiel der deutschen Sektion. Dargestellt wird die wechselvolle Geschichte der Entstehung des Bestands, von seinem Aufbau nach dem Ersten Weltkongress bis zu seiner Übernahme in die ,,Abteilung für internationale Information" beim Zentralkomitee der KPdSU (1943), die später in die ,,Abteilung für Außenpolitik" umgewandelt wurde. Anschließend gibt Hermann Weber einen Überblick über den Stand der aktuellen Biografieforschung auf dem Gebiet der Komintern und erinnert eindringlich an die Pflicht des Historikers zum quellenkritischen Umgang gerade mit diesem aus vielerlei Gründen nicht unproblematischen Quellenkorpus. Im zweiten Teil stellen Feliks Tych für die polnische Arbeiterbewegung, José Gotovitch für die französischsprachigen Länder und Klaus Meschkat für die Komintern in Lateinamerika bereits existierende biografische Handbücher dar und erörtern Hintergründe und Probleme ihrer Entstehung. Die hierbei zum Ausdruck kommenden Ansätze einer weiteren Internationalisierung der Kommunismusforschung sind begrüßenswert, es bleibt zu hoffen, dass die Kontakte weiter intensiviert werden.
Der folgende Abschnitt - ,,Das Allgemeine im Besonderen?" - widmet sich einzelnen biografischen Schicksalen. Annelie Schalm zeigt anhand der bemerkenswerten Biografie Ruth Fischers, wie sehr ihre erfolgreiche Karriere in der noch jungen KPD auch vom Einfluss der Komintern abhängig war. Der außergewöhnliche Aufstieg einer erst 29-Jährigen an die Spitze der zweitstärksten Sektion der Komintern war emblematisch für die Kritik der vom Krieg radikalisierten, jungen Generation an den aus ihrer Sicht noch zu sehr ,,sozialdemokratischen" Alten. Die unter Fischers Leitung durchgeführte, radikale ,,Bolschewisierung" atmete genau diesen Geist, war aber zugleich das ,,Einfallstor" für den Siegeszug des Stalinismus (S. 147). Reinhard Müller beschäftigt sich mit Herbert Wehner und belegt, wie sehr der hohe KPD- und Komintern-Funktionär der grassierenden Paranoia vor ,,Trotzkisten" und ,,Verrätern" erlegen war und sich durch seine Denunziationen am stalinistischen Terror folgenschwer beteiligte. Es lässt sich allerdings auch erahnen, unter welchem Druck Wehner in Moskau angesichts seiner anarchosyndikalistischen Vergangenheit gestanden haben muss. Juri Tutotschkin zeichnet in seinem Beitrag die Biografien einiger österreichischer Kommunisten nach, um sich einer etwaigen spezifischen Mentalität von Kominternfunktionären zu nähern, kommt aber aufgrund der Individualität der geschilderten Fälle und der Begrenzung seines Samples zu keinem wirklich befriedigenden Ergebnis. Abschließend beleuchtet Juri Tichonow die hierzulande völlig unbekannten Aktivitäten der Komintern in Afghanistan, das seit Beginn der 1920er Jahre als Brückenkopf (,,afghanischer Korridor") für den Revolutionsexport nach Indien fungieren sollte.
Im 4. Abschnitt - ,,Gruppenidentität und Statistik" - präsentiert zunächst Peter Huber einen dicht geschriebenen und interessanten soziobiografischen Querschnitt des vergleichsweise jungen Führungskorps (das höchste Durchschnittsalter betrug 43,3 Jahre (1934), das niedrigste 36,3 (1921)), das im Zeitraum von 1919 bis 1936 immerhin 580 Kader umfasste (Durchschnittsalter 40 Jahre). Die Zahl der Intellektuellen war sehr hoch, wenn sie auch stetig sank, von anfangs 63% auf 37% (1937); mit 20% überraschend niedrig war dagegen die Zahl der ,,Russen" bzw. Sowjetbürger, auch wenn man berücksichtigt, dass gerade in der engeren Führung ihr Anteil höher war. Der Anteil jüdischer Funktionäre war zu Beginn auffällig hoch (1923: 34,8%), was dem hartnäckigen Stereotyp des ,,jüdischen Bolschewismus" stets neue Nahrung gab, sank aber kontinuierlich (1941: 12,7%). Die ,,Säuberungen" trafen das Führungskorps in verheerendem Ausmaß - einige Sektionen verloren mehr als die Hälfte ihrer Kader. Olaf Kirchner bemüht sich im Folgenden um eine ,,empirische Profilbestimmung" der einflussreichen ,,sowjetischen Sektion" der Komintern. Welche Vorzüge die akribische Untersuchung der regionalen und nationalen Herkunft der sowjetischen Kader bzw. die Feststellung des Eintritts in die Komintern über die reine Informationssicherung hinaus besitzt, bleibt etwas unklar. Julia Köstenberger beschreibt anschließend den bemerkenswerten Versuch der Komintern, mittels der ,,Internationalen Lenin-Schule" (1926-1938) national und international einsetzbare Kader auszubilden. Diesen kann man im Ganzen als durchaus gelungen betrachten, brachte die Schule doch in der Regel sehr disziplinierte, oft vielseitige Funktionäre hervor, ausgebildet allerdings vom ,,unmenschlichen System des Stalinismus" (S. 309). Während große Teile insbesondere des Lehrpersonals in die Mühlen der ,,Säuberungen" gerieten, kämpften zahlreiche Absolventen im besetzten Europa gegen den Nazismus, in der DDR gehörten viele zur Funktionselite in Staat und Partei.
Obwohl das Thema ,,Säuberungen" auch in zahlreichen Beiträgen Erwähnung findet, ist ihm der letzte Abschnitt ,,Logik des Terrors" explizit gewidmet. So gesehen verwundert die Einordnung des überaus lesenswerten Beitrags Alexander Vatlins über die ,,Russifizierung" der Komintern etwas, befasst sich dieser doch mit der Frage nach dem Einfluss der russischen, dann sowjetischen Partei auf die Komintern, der von Anfang an sehr groß war und 1926 sogar mit der Bildung der ,,Ständigen Delegation" der russischen bzw. sowjetischen Partei im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) gleichsam institutionalisiert wurde. Ob die Komintern, wie Vatlin meint, von Anfang an ,,russisch" war, darüber sollte m.E. etwas differenzierter geurteilt werden, schon mit Blick auf die von Huber aufgezeigte Internationalität des Führungskorps, aber auch angesichts ihres universalistischen Anspruchs. Im Anschluss gewährt Swetlana Rosenthal tiefere Einblicke in das Quellenmaterial des Kominternarchivs, indem sie die Repressionen gegen britische und polnische Kommunisten nachzeichnet (die Führungsriege der polnischen Partei wurde nahezu ausgelöscht). Wladislaw Hedeler versucht sich an einer Kollektivbiografie, als Quellenkorpus dienen Komintern-Dokumente von Gulag-Häftlingen. So interessant und facettenreich die geschilderten Schicksale sind, so sehr sind seinem Bemühen, zumindest in dem hier zur Verfügung stehenden, knappen Rahmen, Grenzen gesetzt. Fridrich Firsow und Michael Buckmiller beschäftigen sich speziell mit der ,,Großen Säuberung" innerhalb der Komintern bzw. mit der Genese der internen, autoritären Herrschaftsmechanismen. In dem paranoiden Klima von Denunziation und Spionagehysterie gerieten auch die Komintern-Kader - gleichsam als ,,Buße für den Dienst am Stalinschen System" (S. 377) - in die Mühlsteine der Repressionsmaschine, wobei sich die Linie zwischen Opfern und Tätern verwischte. Firsow widerspricht dabei der These, dass die Säuberungen einen ,,spontanen Charakter" (S. 371) gehabt hätten und ungeplant gewesen seien.
Insgesamt bieten die zumeist sehr instruktiven Beiträge einiges an Neuem, wenngleich dem Band zuweilen ein ,,roter Faden" fehlt und die Kapiteleinteilung nicht immer überzeugt. Unabhängig davon besteht die größte Leistung bzw. das Kernstück des Forschungsprojektes in der Erschließung des in den Kominternakten enthaltenen, wirklich enormen biografischen Materials und dessen Aufbereitung und Präsentation in einer Datenbank (auf CD-Rom). Von dem ursprünglichen, sehr ehrgeizigen Plan, eine ,,Massenprosopographie der Komintern" zu erarbeiten, musste angesichts des Umfangs und der Uneinheitlichkeit der Datenbestände sowie des schmalen Zeitfensters abgewichen werden, zugunsten der systematischen Erfassung und datentechnischen Aufbereitung der wichtigsten soziobiografischen Daten.
Wer narrativ verfasste biografische Einträge bevorzugt, wird hier etwas enttäuscht - dies wird jedoch durch die Fülle der Informationen und die Arbeitsmöglichkeiten mit der Datenbank mit ihren Such- und Filter-Funktionen mehr als wettgemacht. Kritisch anzumerken wäre lediglich, dass die Benutzeroberfläche der Datenbank etwas unübersichtlich und umständlich in der Handhabung ist (Tipp: ihre Installation auf der Festplatte erhöht die Benutzerfreundlichkeit). Bei einigen Einträgen besteht der Eindruck der Unvollständigkeit, was allerdings angesichts des teilweise lückenhaften bzw. selektiven Informationsgehalts einer Kaderakte nicht überrascht - zudem handelt es sich eben nicht um biographische Einträge im eigentlichen Sinne, es wird das in den Akten vorhandenen biographische Material aufgelistet.
Ob mit dem gesammelten Datenmaterial tatsächlich eines Tages eine ,,kollektive Biographie" der Mitarbeiter des Apparates der Komintern geschrieben werden kann, sei angesichts der Größe der Organisation sowie der Fülle und Disparität des Materials dahin gestellt. Sicher ist, dass die in den Beiträgen präsentierten Ergebnisse vielerlei wichtige Anregungen für weitere Forschungsarbeiten bieten. Die Datenbank mit ihrer Fülle an aufbereiteten Daten bzw. Hinweisen zu einschlägigen Aktenbeständen und weiterführender Literatur wird für jeden Komintern-Forscher zukünftig ein unersetzbares Arbeitsutensil sein.
Joachim Schröder, Düsseldorf
Fußnote:
1 Vgl. Ralf Zwengel, Die Kommunistische Internationale - Personen, Apparate, Strukturen. Ein Tagungsbericht, in: IWK 40, 2004, H. 2, S. 229ff.