ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Marianne Bechhaus-Gerst/Sunna Gieseke (Hrsg.), Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur (Afrika und Europa. Koloniale und Postkoloniale Begegnungen, Bd. 1), Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main/Berlin/Bern etc. 2006, 447 S., zahlr. s-w. Abb., Tab. u. Graf., kart., 61,20 €.

In der Auseinandersetzung mit Rassismus wird seit einiger Zeit auch die Perspektive thematisiert, die aufgrund ihrer Position der Dominanz sich gern selbst als nicht rassenspezifisch versteht - jene der Weißheit. Unter Bezug auf die Entwicklung der Critical Whiteness Studies soll der Band diese spezifische Form eines postkolonialen Ansatzes auf die deutsche Gegenwart und Vergangenheit in multidisziplinärer Perspektive (v.a. Geschichte, Germanistik, Ethnologie) beziehen. Er vereinigt 29 Papiere, die 2004 auf einer gleichnamigen Konferenz vorgestellt wurden. Damit soll, wie die Herausgeberinnen formulieren, der ,,Beginn einer wichtigen [...] wissenschaftlichen Auseinandersetzung" gemacht werden (S. 10), zugleich aber ,,ein wissenschaftlicher state-of-art erarbeitet werden" (S. 9).

Zum Stand der Forschung in diesem Sinne scheinen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre, etwa die von Nora Räthzel und Henning Melber, nicht zu gehören; sie werden nirgends erwähnt, und es besteht gelegentlich der Eindruck, das Rad werde einmal mehr erfunden. Das gilt nicht zuletzt von der inzwischen ermüdenden Litanei rassistischer Sottisen philosophischer Klassiker, vor allem Kants und Hegels. Die ständige Wiederholung und Ergänzung des Schatzes inkriminierender Zitate wird um keinen Deut überzeugender, solange nicht gezeigt wird, was das genau mit der ,,Kritik der reinen Vernunft" oder auch mit ,,Zum ewigen Frieden" zu tun hat. Auch der Nachweis, die Aufklärung sei ,,ganz entschieden weiß" (S. 52), den El Hadj Ibrahima Diop führt, bleibt im Grunde trivial, wo er hinter die Einsicht in die Dialektik der Aufklärung oder wenigstens in ihre durchgreifenden klassifikatorischen Impulse einerseits und hinter die Erkenntnis ihrer sozialhistorischen Verankerung in der zeitgenössischen transatlantischen Ökonomie andererseits zurückfällt. Ebenfalls, wenn auch in ganz anderem Kontext deutlich zu kurz springt Nadine Golly in ihrem Plädoyer, die Fremdheitserfahrungen Schwarzer im Wissenschaftsbetrieb ernst zu nehmen, ohne auch nur ansatzweise etwa die Frage zu reflektieren, wie dies außerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften leistbar wäre, zumal auch der Bologna-Prozess wenigstens in Deutschland ja nicht zu einer allgemeinbildenden universitären Eingangsstufe nach angelsächsischem Vorbild geführt hat, in der diese Inhalte einen wichtigen Platz einnehmen könnten. In seiner Darstellung von Hans Paasches in zahlreichen Auflagen erschienener Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara in das innerste Deutschland (1912/13, zuletzt 2001; 2006 als Hörbuch) verfließen Pierre Kodjo Nenguié die Ebenen der Verfremdung und Ironie dieses wenigstens seit Montesquieus ,,Lettres Persanes" in der westlichen Gesellschaftskritik geläufigen Genres. Zumal er die Ebenen der Autorschaft Paasches und der Fiktionalität Mukaras nicht klar auseinanderhält, kann Nenguié auch die offensichtlichen Orientalismen bzw. Afrikanismen Paasches nur ansatzweise identifizieren. Nicht nur hier drängt sich der Eindruck auf, der Band sei nach dem Prinzip zusammengestellt, dass wenn nur Deutsche sich irgendwie mit Afrika befasst haben und zudem Afrikaner noch darüber schreiben, sei dies bereits ein Schritt in die richtige Richtung. Das Ergebnis verstärkt die Skepsis gegenüber solchen Annahmen.

Dem bunten Strauß der Beiträge lassen sich auch einige nützliche Einsichten und Anregungen entnehmen. Dies gilt für Ingrid Jungwirths kritische Untersuchung der weißen Normativität in dem einflussreichen Identitätsmodell von Erik H. Erikson oder Stefanie Michels' Herausarbeitung eines ,,Fortschrittsdispositiv(s), in dem die europäische, weiße Identität die Führung innehat" (S. 333), anhand der Rolle und Nachwirkung der Gestalt des Generals von Lettow-Vorbeck. Seine menschenverachtende Kampagne in Ostafrika während des Ersten Weltkrieges wie die Niederschlagung des Sülze-Aufstandes (nicht: ,,Spartakusaufstand" wie S. 316, 320, 321) in Hamburg 1919 sowie sein Eintreten für den Kolonialrevisionismus der 1920er bis 1940er Jahre und schließlich seine Funktion als Patron diverser Bundeswehrkasernen bis in die Gegenwart bezeichnen besonders eindrucksvoll Kontinuitätslinien kolonialer und militärischer Tradition in (West-)Deutschland. Wolfgang Fuhrmann ordnet zum einen weitgehend vergessene zeitgenössische Filme, in denen der Herero-Deutsche Krieg im heutigen Namibia dargestellt wurde, in die Geschichte des frühen ,,Kinos der Attraktionen" (S. 252 passim) ein und liefert zum anderen wichtige Belege für die breite zeitgenössische Kommunikation des Kolonialkrieges, die er zutreffend mit der ,,langanhaltende(n) kollektive(n) Amnesie im deutschen Geschichtsbewusstsein in Bezug auf den Völkermord-Krieg in Afrika" kontrastiert (S. 267). Gunther Pakendorf bettet seine Untersuchung des Romans ,,Ein unsichtbares Land" von Stephan Wackwitz (2003) in ein Resümee des deutschen Nationalismus seit Fichte und Schleiermacher ein und zeigt an Wackwitz' ,,postkolonialen Roman", der anhand der Gestalt und Erlebnisse des Großvaters des Autors deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, zumal während des Ersten Weltkriegs in Polen sowie aus der Zeit des Großvaters als Pfarrer und Landesprobst der deutschen evangelischen Kirche im damaligen Südwestafrika in den Blick nimmt, die Brechungen auf, mit denen die Enkel konfrontiert sind, wollen sie die unabgegoltene Geschichte eines ihnen nicht mehr zugänglichen Landes bearbeiten; freilich lag Kraków als historische Hauptstadt Polens nie ,,im [...] deutschen Osten" (S. 163). Marga Günthers qualitative Studie der Erfahrungen und Perspektiven guineischer Studierender in Frankfurt verweist - freilich eher implizit - auf die Notwendigkeit (und die Schwierigkeit), erfahrenen Rassismus gegenüber eher allgemein mit Migration verbundenen Erfahrungen des Fremdseins abzugrenzen und zeichnet zugleich ein differenziertes Bild der afrikanischen Herkunftsgesellschaft, nicht zuletzt aus der Perspektive der Geschlechterdifferenz und der daraus erwachsenen Aufstiegsmotivation der guineischen Gewährsfrau, die ausführlich zu Wort kommt.

Leider erreichen gerade die meisten der Beiträge, die sich dem Bild Afrikas in der deutschen Populärkultur sowie den Selbst- und Fremdbildern der afrikanischen Diaspora in Deutschland sowie schwarzer Deutscher, teils auch literarischen Darstellungen Afrikas und des deutschen Kolonialismus widmen, nicht dieses analytische Niveau. Oft handelt es sich um nicht viel mehr als um bloße Aufzählungen von Bücher-, Schallplatten- oder Filmtiteln, was immerhin Informationen über die Präsenz Afrikas in solchen Produktionen liefert. Wirklich ärgerlich wird es, wenn im einzigen englischsprachigen Beitrag Albert-Pascal Temgoua in provokant androzentrischer Sprache (,,man and woman worked, each to his capacities", S.190, Hervorhebung R.K.) die Kritik von Missionaren an der Polygamie im Kamerun der deutschen Kolonialzeit nicht - wie gerade in der postkolonial orientierten Literatur inzwischen zum Standard geworden - auf ihre Ambivalenz hin untersucht, sondern mit dem durchaus patriarchalen Argument, ,,ein Mann, der von seinem Häuptling einen Adelstitel einforderte, musste dies durch eine große Nachkommenschaft rechtfertigen" pauschal zurückweist (S. 189). Ins Groteske fällt die Argumentation ab, wenn Temgoua meint, ,,die Deutschen" hätten ,,sich zweifellos auf die feministischen Theorien bezogen, die damals in ihrem Land im Schwange waren" (S. 190) - zu einer Zeit, als Missionare bei ihren Oberen ,,um Zusendung meiner Braut" einkamen!

Bei der Lektüre des Buches fragt sich, wo die Herausgeberinnen den Punkt sehen, an dem Intervention geboten ist. Der Band wimmelt von größeren und kleineren Fehlern und Anachronismen, neben den bereits genannten verdienen Erwähnung etwa die Annahme, das ,,Panoptikum", also die Utopie totaler Durchsichtigkeit, ermögliche gerade die Ausschaltung von Wahrnehmung (S. 86) oder die Formulierung vom ,,,Geist' im hegelianischen Sinne", der ,,heute befähigt" sei, ,,die ganze Welt zu beleuchten" (S. 74), mit der nichts als der Verzicht auf Hegel-Lektüre kundgetan wird - bei Hegel ist der Weltgeist schließlich keine Lampe, sondern das schöpferische Prinzip, das sich der Geschichte entäußert und eben dadurch zu sich selbst kommt. Schließlich kulminiert dies in dem Vorwurf, ,,europäische Aufklärer" seien ,,veralteten Vorstellungen [von Rasse] verhaftet [ge]blieben" (Diop, S. 51). Die faktische Abschaffung des Lektorats im deutschen Verlagswesen bürdet Herausgeberinnen und Herausgebern zusätzliche Arbeit auf. Auch die vielen sprachlichen Fehler zeigen, dass diese Aufgabe hier eklatant vernachlässigt wurde. Damit wurde eine Chance vertan: Die wenigen Perlen des Buches können dem insgesamt negativen Eindruck des Bandes nicht viel entgegensetzen. Bedenklich ist insbesondere, dass sich der Verdacht aufdrängt, die eigene Betroffenheit durch ,,Weißheit" habe hier jegliche Kritikfähigkeit gegenüber Texten verdrängt, die Weißheit thematisieren und/oder (gar?) von Afrikanern stammen.

Reinhart Kößler, Bochum/Freiburg


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