ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Marcel Boldorf, Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Weichenstellungen in Schlesien und Irland (1750-1850) (Industrielle Welt, Bd. 68), Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2006, 331 S., kart., 44,90 €.

Seit über 30 Jahren gibt es die Diskussion um die Bedeutung der frühneuzeitlichen Protoindustrialisierung für die Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Der Theorie, dass es sich bei der Protoindustrialisierung um die erste Stufe der Industrialisierung gehandelt habe, widersprachen bereits 1978 Peter Kriedte, Hans Medick und Jürgen Schlumbohm in ihrem viel diskutierten Buch ,,Die Industrialisierung vor der Industrialisierung". Marcel Boldorf greift in seiner Habilitationsschrift von 2002/03 dieses Problem auf und analysiert es am Beispiel der schlesischen Leinenindustrie im Vergleich mit der Nordirlands. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Textilgewerbe Niederschlesiens, das sich im Zuge der Gutsherrschaft im Vorgebirge der Sudeten herausgebildet hatte. Sein Erkenntnisinteresse befasst sich mit der Frage, inwieweit staatliche Vorgaben im Zeitalter des Merkantilismus eine flächendeckende Weiterentwicklung der Protoindustrialisierung zur Industrie verhindert haben. Dabei kommt er zu dem überzeugenden Schluss, dass nur dort, wo dem Verleger-Kaufmann freie Hand gelassen wurde, eine Weiterentwicklung zur Industrialisierung gelang. Da dies in Niederschlesien nicht durchgehend der Fall war, bildeten sich nur Industrialisierungskerne heraus (so in Landeshut), während sonst eine De-Industrialisierung eintrat. Im nordirischen Linen Triangle industrialisierte sich dagegen das Kerngebiet der protoindustriellen Region. Hier bildete sich früh eine Produktionsdiversifizierung im Bereich Baumwolle und in der Feinleinenbranche, begünstigt durch ein liberales Umfeld, in dem Zwischenhändler frei agieren konnten.

Ähnlich wie in Schlesien verlief die Entwicklung in Flandern, Ostwestfalen und im Osnabrücker Land. Die innovationshemmenden Elemente auf dem Weg zu einer flächendeckenden Industrialisierung untersucht Marcel Boldorf eingehend am Beispiel Schlesiens. Das dortige Leinengewerbe entstand zunächst im Nexus der Gutsherrschaft. Auch wenn die Protoindustrialisierung in der Folgezeit die feudalen Bande lockerte, blieben die Heimgewerbetreibenden durch den Weberzins, der aus dem Grundzug abgeleitet wurde, mit der Gutsherrschaft verbunden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts florierte das Leinengeschäft, doch trat zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Krise ein, nachdem der für Schlesien wichtigste Exporthafen Hamburg aufgrund der politischen Ereignisse ausfiel. Dass dennoch die Zahl der Webstühle damals anstieg, ist eher als Krisenmoment zu deuten, da die Heimgewerbetreibenden durch erhöhte Arbeitsbelastung den Preisverfall auszugleichen versuchten. Die städtischen Kaufleute stellten die Verbindung zu den internationalen Märkten her. Da sie aber zunftmäßig verbunden waren, entwickelten sie kein Verlagssystem, das zudem durch staatliche Vorgaben - wie die preußische Schleierordnung von 1742 - behindert wurde. Die Dorfkaufleute, die zu den städtischen Kaufleuten in Konkurrenz traten, vermochten sich jedoch kaum geschäftlich weiter zu entwickeln und dienten weitgehend nur als Zulieferer für die Breslauer Handelshäuser. Um die Entwicklung zum Verlegertum zu verhindern, wurden zudem Garn- und Leinenhandel streng getrennt. Innovationshemmend wirkte sich zudem das sog. Schausystem aus, die staatliche Überprüfung der Produkte. Eine Diversifikation der Produkte fand nicht statt, doch entwickelte sich seit den 1790er-Jahren die Baumwollweberei. Diese ermöglichte auch in Ansätzen das Verlagsgeschäft, wie das Beispiel des Unternehmers Friedrich Sadebeck zeigt, der um 1800 über ca. 3.350 Baumwollwebstühle verfügte, an denen er für sich arbeiten ließ. Er importierte südeuropäische Baumwolle über Wien und Triest und ließ sie an seine Weber verteilen. Er sorgte auch dafür, dass die Produkte der herrschenden Mode angepasst wurden. Die Tätigkeit dieses fast einzigen Verlegers in Schlesien wurde durch Regierungsvorgaben immer wieder beeinträchtigt. Zur Krise der Leinenweberei trug zudem bei, dass die Hirschberger Kaufleute ihr Kapital in den Agrarbereich transferierten und Gutshöfe erwarben. Von den 4.100 schlesischen Gutshöfen befanden sich in den 1790er-Jahren 7,4 Prozent in bürgerlicher Hand. Die Kaufleute passten sich dem adeligen Lebensstil an, wie ihre Schlösser im Hirschberger Tal bezeugen.

Mit dem Rückgang der Webstühle nach 1815 setzte die De-Industrialisierung in Niederschlesien ein. Der Preisverfall auf den internationalen Märkten macht die Krise zu einem Dauerzustand, der durch Selbstausbeutung der Weber nicht mehr aufgefangen werden konnte und schließlich im Pauperismus endete. Sein Höhepunkt lag um 1847, als Strukturkrise und Agrarkrise zusammenfielen. Der preußische Staat sah der Entwicklung nicht hilflos zu, sondern förderte die Maschinisierung, so dass 1849 Schlesien 95,7 Prozent der Gesamtzahl preußischer Flachsmaschinenspindeln stellte. Die im Jahr 1852 sich endlich durchsetzende Gewerbefreiheit führte zur Entwicklung der Textilindustriekerne, so in Landeshut, Langenbielau und Wüstewaltersdorf. Insgesamt aber verpasste Schlesien den Schritt zur flächendeckenden Industrialisierung.

Anders dagegen die Entwicklung in Nordirland, wo aufgrund der Gewerbefreiheit die Industrialisierung flächendeckend erfolgte, so dass bereits 1850 die Zahl der Maschinenspindeln die schlesische um das Neunfache übertraf. Rechtzeitige Umstellung auf Modetrends und ein prosperierender Exporthandel durch potente Unternehmer förderten die Entwicklung, anders als dies in Schlesien der Fall war, zu einem geschlossenen Industriegebiet. Im Gegensatz zur staatlichen Gängelei in Schlesien hatte sich in Irland eine großzügige Gewerbeförderung durch den Staat bereits im 18. Jahrhundert bezahlt gemacht. Entsprechend hatte sich - auch dies anders als in Schlesien - eine liberale Gesellschaft entwickelt, die nicht kleinlich Monopole zu sichern suchte. Die Darstellung der zwei Fallbeispiele drängt zu dem Fazit, dass nur eine freie Entwicklung des Handels die Industrialisierung ermöglichte. Ein umfangreicher Anhang mit zahlreichen Statistiken und Karten stützen anschaulich die Ergebnisse des Verfassers.

Arno Herzig, Hamburg


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