ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Reinhard Rürup, unter Mitwirkung von Michael Schüring, Schicksale und Karrieren. Gedenkbuch für die von den Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertriebenen Forscherinnen und Forscher. Mit einem Geleitwort des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Bd. 14), Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 539 S., kart., 34,00 €.

Es gibt wohl kaum eine deutsche Wissenschaftsorganisation, die so sorgfältig und selbstkritisch mit ihrer Vergangenheit umgeht wie die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) mit sich und ihrer Vorgängerin, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG). Der vorliegende Band ist der 14. von inzwischen 17 Bänden über ihre Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei hatte der Verfasser, der Berliner Antisemitismus-Forscher Reinhard Rürup, von Anfang an wesentlichen Anteil an dem Forschungsunternehmen, das Ende der 1980er Jahre vom damaligen Präsidenten der MPG Heinz Staab angestoßen, allerdings erst Ende der 1990er Jahre von unabhängigen Historikern im Auftrage der MPG in Angriff genommen wurde. Es wurde somit selbst zu einem Kapitel bundesdeutscher Geschichte nach 1945, genauer gesagt: nach 1948, dem Gründungsjahr der MPG, als man sich anderen, wichtigeren Dingen als der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit widmete. Rürup schildert denn auch den oft beschämenden Umgang der MPG mit ihren vertriebenen Wissenschaftlern in den ersten Jahrzehnten (S. 124ff.).

Den vorliegenden Band hat der Verfasser in drei große Teile gegliedert: Einem historischen Abriss (S. 15-143), in dem er die Verfolgung und Vertreibung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der KWG (1) schildert, folgen 104 z.T. ausführliche Biografien von verfolgten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (S. 147-376) sowie eine Fotodokumentation (S. 379-458), die Abbildungen von Personen und Gebäuden der KWG enthält. Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie separate Register der Einrichtungen der KWG und der MPG, der zitierten Personen und der Länder und Orte runden dieses Gedenkbuch ab.

Der erste Teil behandelt kurz die Hauptblütezeit der Institute der KWG in der Weimarer Zeit und kommt dann bald auf die Periode der ,,Selbstgleichschaltung" (2) nach der nationalsozialistischen ,,Machtergreifung" von 1933 zu sprechen. In deren Rahmen setzte die Repression ,,nichtarischer" und solcher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein, die den Nationalsozialisten politisch nicht genehm waren. Die Hebel dazu waren in der Regel das Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933 und - ab 1936/37 nach Plancks Ausscheiden und der Einbeziehung der KWG-Institute in die Kriegsforschung - ein stärkerer personeller Einfluss der Nationalsozialisten. Die Mittel waren vielfältig und reichten von formellen Kündigungen über Nichtverlängerung von Arbeitsverträgen bis zur ,,freiwilligen" Dienstaufgabe und der nachfolgenden Emigration. Der damalige Präsident Max Planck und die Generalverwaltung in Berlin bemühten sich anfangs intensiv und mit erheblichem Erfolg, die institutionelle Autonomie der KWG zu bewahren. Der Verfolgung ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus rassistischen und politischen Gründen widersetzten sie sich in einzelnen Fällen, erzielten aber in der Regel nur eine aufschiebende Wirkung. Max Planck persönlich ließ es nicht an deutlichen schriftlichen Worten gegenüber den staatlichen und Parteistellen mangeln. Als er sich im Gespräch bei Adolf Hitler am 16. Mai 1933 für jüdische Wissenschaftler der KWG, insbesondere für den renommierten Chemiker Fritz Haber, einsetzte (S. 69), blieb auch er ohne Erfolg. Der Aufforderung von Otto Hahn, öffentlich gegen die Diskriminierung und Entlassung jüdischer Kollegen Stellung zu beziehen, hielt Planck im Juli 1933 resignierend entgegen: "Wenn heute 30 Professoren aufstehen und sich gegen das Vorgehen der Regierung einsetzen, dann kommen morgen 150 Personen, die sich mit Hitler solidarisch erklären, weil sie die Stellen haben wollen" (S. 68). Ein Teil der Direktoren der KWG verwandte sich ebenfalls für verfolgte Mitarbeiter. Plancks Wirken vor 1945 dürfte aber weiter Diskussionsstoff für Wissenschaftshistoriker bieten. (3)

Die Ermittlung genauer Zahlen gestaltete sich für Rürup als Problem, da es sowohl unterschiedliche Formen der Beschäftigung bei der KWG in den in- und ausländischen Instituten gab als auch häufig die Trennung zwischen wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem Personal nicht möglich war. So enthielten die beiden Listen, die die Generalverwaltung im Herbst 1933 für die inländischen Institute der KWG erstellte, 1.061 Beschäftigte, von denen 54 (5,1%) als ,,nichtarisch" bezeichnet wurden - in 28 Fällen war jedoch bereits zuvor die Entlassung bzw. die Kündigung verfügt worden (vgl. S. 70). Deren Verteilung auf die Institute war sehr unterschiedlich, und somit waren auch die Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit der Institute sehr verschieden: Nur in 17, d.h. in etwas mehr als der Hälfte aller Einrichtungen der KWG, gab es zu der Zeit jüdische bzw. ,,nichtarische" Beschäftigte. Im Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie, das von dem Nobelpreisträger Fritz Haber bis zu seinem Protest-Rücktritt vom 30. April 1933 geleitet worden war, gab es unter den 49 Beschäftigten allein 12 ,,Nichtarier", so dass dieses Institut 1934 praktisch aufhörte zu existieren (S. 70 und 107 mit abweichenden Zahlen). Nur eine relativ kleine Zahl von Forschern wurde aus politischen Gründen entlassen oder ging ins Ausland. Der Verfasser zeichnet für die KWG-Institute ein ähnlich schlimmes Bild, wie dies Michael Grüttner und Sven Kinas für die deutschen Universitäten getan haben. (4)

Rürup skizziert im Vorfeld der Einzelbiografien von rassistisch und politisch verfolgten KMG-Wissenschaftlern ein Porträt dieser großen Gruppe. Danach kamen fast alle aus bürgerlichen Verhältnissen, waren oft musikalisch und literarisch engagiert, überwiegend liberal-konservativ eingestellt, selten der SPD zugeneigt. Von den 104 Personen, von denen der Verfasser zuverlässige Daten ermitteln konnte, erlebten 89 das Ende des Zweiten Weltkrieges, davon 7 in Deutschland. Diejenigen, die ihre Heimat verlassen und Schutz suchen mussten, fanden ihn überwiegend in den USA (36), Großbritannien (24) und Palestina (7) (S. 114/115). Dabei waren in den USA die Rockefeller Foundation und in Großbritannien der Academic Assistence Council häufig hilfreich. Unter ihnen befanden sich gänzlich unterschiedliche Persönlichkeiten und Lebenswege: Der bekennende jüdische Pazifist und Nobel-Preisträger Albert Einstein, 1879 in Ulm geboren und seit 1914 Direktor des KWG-Instituts für Physik (S. 176-182), kehrte bereits im März 1933 aus Protest gegen die nationalsozialistische Politik nicht mehr aus dem Ausland zurück. Die renommierte Physikerin Lise Meitner, 1878 in eine liberale jüdische Familie des Wiener Bildungsbürgertums hineingeboren, hielt fast am längsten in Deutschland aus, musste jedoch im Juli 1938 Hals über Kopf fliehen (S. 262-268). Ein nicht minder bewegtes Leben hatte der russische Mediziner Sergej Stepanovich Tschachotin (S. 332-336), der 1883 in Konstantinopel geboren wurde. Er beteiligte sich 1917 als sozialdemokratischer Menschewik zunächst an der Februarrevolution und setzte sich danach als sowjetischer Staatsbürger und Sozialist - neben seiner erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeit am Heidelberger KWG-Institut für medizinische Forschung - für die SPD in der Weimarer Republik ein. Sein Direktor wollte und konnte ihn nach der ,,Machtergreifung" nicht mehr halten, so dass Tschachotin im Mai 1933 Deutschland verließ und auf z.T. abenteuerlichen Wegen 1958 in die Sowjetunion zurückkehrte. Der einzige Wissenschaftler, der aus politischen Gründen verfolgt und hingerichtet wurde, war der Völkerrechtler Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, der erst beim Völkerbund, dann ab 1934 am KWG-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht arbeitete (S. 320-325). Er war 1905 in Stuttgart geboren worden, hatte wie sein Bruder Claus dem Stefan-George-Kreis angehört und war anfangs Nationalsozialist gewesen. Wie sein Gesinnungsgenosse Helmuth James Graf von Moltke (5) hatte er vor dem Krieg zu den hochtalentierten und umworbenen Juristen gehört.

Die Biografien machen neben dem persönlichen und beruflichen Werdegang der Porträtierten die besonderen Umstände ihrer Verfolgung, die oft schwierigen Verhältnisse in den Emigrationsländern und die Nachkriegserfahrungen mit ihrer ehemaligen Heimat plastisch. Dabei gelingt es dem Verfasser, auch die wissenschaftlichen Leistungen dieser 22 Forscherinnen und 82 Forscher verständlich darzustellen. Die Wiedergabe der 98 Fotografien hätte sich der Rezensent drucktechnisch besser gewünscht. Dennoch, mit diesem Gedenkbuch hat Reinhard Rürup eine gelungene Würdigung von Persönlichkeiten geschrieben, die einst zur wissenschaftlichen Elite Deutschlands zählten. Ihr erzwungenes Ausscheiden und auch der Tod einiger von ihnen erwiesen sich als persönliche Tragödien und zugleich als ein unwiederbringlicher Verlust für das von ihnen geliebte Land.

Ekkehard Henschke, Oxford/Berlin

Fußnoten:


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