Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.), Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, 392 S., kart., 24,90 €.
,,Einholen und Überholen" - boshaft ließe sich die altgediente Parole unschwer als Kurzcharakteristik des durch die Konstanzer Osteuropahistorikerin Bianka Pietrow-Ennker vorgelegten Sammelbands zur ,,Kultur in der Geschichte Russlands" zweckentfremden. Schließlich stellt die Herausgeberin bereits im Vorwort dem eigenen Fachbereich - der russischen Geschichtsforschung - in punkto Aktualität ein unmissverständlich negatives Zeugnis aus: Den cultural turn habe man fast kollektiv verschlafen, Impulse, letztlich für die Anschlussfähigkeit an andere Disziplinen notwendig, seien Mangelware (S. 9). Dass es so finster bezüglich der Hinwendung zur Neuen Kulturgeschichte und der damit verbundenen Absage an das Eindeutigkeitsideal letztlich gar nicht ausschaut, vermag der als Leistungsschau der aktuellen deutschsprachigen Russlandforschung angelegte Band in nahezu jeder Hinsicht zu zeigen. Aber ist ein Rückstand erst einmal präzise erkannt bzw. benannt, kann man sich dessen Beseitigung auch mit vollem Elan widmen.
Damit der Prozess des Ein- und Überholens auch möglichst lückenlos erfolgt, sind innerhalb des Buches all den Begriffen und Schlagworten Themenbereiche gewidmet, die in den letzten Jahren en vogue waren. Alles andere als einem normativen Kulturverständnis verpflichtet rücken für Pietrow-Ennker ,,menschliche Wahrnehmungen, Deutungen und Sinnhorizonte als Voraussetzungen von sozialer und politischer Interaktion [...], als sinnhafte Konstruktion der Wirklichkeit" in den Fokus (S. 13). Dass bei einem solchen mehr auf Breite angelegten Projekt der zugrunde liegende Kulturbegriff wenig griffig bleibt, war zu erwarten - denn wer die Weiten der Kulturgeschichte über fünf Jahrhunderte hinweg in vollen Zügen durchschreiten möchte, wird eine begriffliche und thematische Engführung stets weiträumig umgehen. Billigend in Kauf genommen wird dabei allerdings, dass dem zentralen Terminus technicus zunehmend die Konturen verschwimmen und er nach und nach Gefahr läuft, zu einem weiteren ,,Plastikwort" (Uwe Pörksen) à la ,,Identität" zu verkommen. Das wissenschaftliche Überholmanöver gerät leider da auf die schiefe Bahn, wo es mehr verspricht als es tatsächlich zu halten in der Lage ist; denn vieles, was hier als »aktuell« verkauft wird, ist so neu letztlich nicht. Der Qualität der Beiträge tut das keinen Abbruch, doch leidet darunter letztendlich die Attraktivität des Bandes.
Um die Pluralität der Ansätze und die thematische Vielfalt zu verdeutlichen, werden nachfolgend die ersten beiden Sektionen zu den Aspekten ,,Raum" und Medien näher vorgestellt. Guido Hausmann, der mit einem Kapitel seiner Habilitationsschrift den Themenblock zur kulturellen Konstruktion des Raumes eröffnet, zeigt am Beispiel der Legende der Ikone der Gottesmutter von der Tolga anschaulich und quellennah, auf welch verschlungenen Pfaden Natur zu ,,einer Art sakraler Landschaft" aufgewertet wurde (S. 51). Ließ sich die Tolgsker Erscheinungslegende zunächst noch in einer lokalen hagiografischen Tradition verorten, erfuhr sie über wiederholte Traditionsbrüche in der Erzählung eine Einbettung sowohl in die biblische Heilsgeschichte als auch in die russische Kirchengeschichte allgemein und steht damit sinnbildlich für das »Aufkommen einer neuen symbolischen Geographie« (S. 55). Vom orthodoxen Erinnerungsraum verschiebt sich der Fokus im nachfolgenden Beitrag Oliver Reisners hin zum imaginierten Raum des Kaukasus. Trotz umfassender Wissensdefizite in der russischen Öffentlichkeit etablierte sich im ,,Wechselspiel russisch-imperialer (Fremd-)Zuschreibung und der Reaktion junger, nationaler Eliten" (S. 61) über den belletristischen, publizistischen und wissenschaftlichen Diskurs eine imperiale Vorstellung des eigenen geografischen Raumes. Die Antwort auf die selbst gestellte Frage, warum gerade die kaukasische Gebirgskette als ,,symbolischer Raum" eine so wichtige Funktion innerhalb der russischen imperialen Gesellschaft einnehmen konnte, bleibt Reisner jedoch schuldig. Am Beispiel der sibirischen Regionalkundemuseen als symbolische Repräsentationsträger gelingt es anschließend Tom Jürgens nachzuzeichnen, wie diese auf Kosten der ursprünglichen Gründungsidee, der inhaltlichen Inszenierung des Interesses am Fremden innerhalb des Eigenen, zunehmend zu einem bloßen Mittel politisch-ideologischer Instrumentalisierung und Funktionalisierung verkamen. Dies war ein Prozess, an dessen zwischenzeitlichem Ende in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, eine Entregionalisierung der Regionalkundemuseen stand.
Der nächstfolgende Themenkomplex steht unter dem Banner ,,medialer Strategien" und wird durch ein ,,Thesenpapier" Jurij Mura_ovs eröffnet, der die gesellschaftlichen Reaktionen des Einzugs der Typografie in die russische Kultur im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert als Abwehrversuche bzw. -reflexe beschreibt, stand doch umgehend der Vorwurf seitens der Orthodoxen Kirche im Raume, eine ,,judaisierende Häresie" mache sich mittels der gedruckten Lettern breit. Riccardo Nicolosi hingegen rekonstruiert die grundlegende Handlungsstrategie Peters des Großen anhand einer Parallelisierung zwischen Kunstkamera und der Stadt Petersburg selbst, manifestiere sich in diesen Beispielen doch die symbolische Ordnung der Petrinischen Epoche: Hier konnte sich Peter als ,,demiurgischer Umgestalter einer ,chaotischen' Wirklichkeit profilieren" (S. 138). Anschließend liefert Ingrid Schierle anhand einer beeindruckenden Analyse des otečestvo-Begriffs, den sie als den »Schlüsselbegriff politischer Pädagogik und Regierungsrhetorik im 18. Jahrhundert« schlechthin präsentiert (S. 143), einen Beleg für die gesteigerte Bedeutung des Mediums Sprache in der Katharinäischen Epoche. Schließlich setzte sich, wie Schierle anschaulich darzulegen versteht, der Begriff otečestvo in einer Vielzahl unterschiedlicher Relevanzbereiche und Kontexte fest (otečestvo als Territorium, Familie, Gemeinwesen sowie als Kultur- und Erinnerungsgemeinschaft).
Auch die nachfolgenden Sektionen zu Identitätskonstruktionen in der beginnenden Moderne (III.), zum Konzept der Lebenswelt als Indikator gesellschaftlichen Wandels (IV.) und den Narrativen der Macht (V.) stehen den hier ausführlicher vorgestellten Themenkomplexen in Sachen methodischer Vielfalt und Variation in nichts nach. Dennoch: die für sich allein gelesenen überzeugenden einzelnen Beiträge mögen zwar durchaus als Nachweis für die ebenso erfolgreiche wie folgenreiche Ankunft des cultural turn in der Osteuropäischen Geschichte dienen, die letztlich schon lange durch diesen ,,geprägt" sei (S. 14); eine einheitliche Forschungsstrategie repräsentieren sie freilich nicht. Dies war gewiss nicht das erklärte Ziel des Bandes, doch wenn der Band tatsächlich sinnbildlich für die konzeptionelle und methodische Öffnung des Fachbereiches stehen soll, so bleibt zu bemängeln, dass zu viele Themenfelder unbenannt bleiben, allenfalls am Rande Erwähnung finden, wie beispielsweise der iconic oder der performative turn. Somit handelt es sich um einen Band, der Repräsentativität suggeriert, jedoch eher monopolisiert.
Alexander Kraus, Köln