Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Jan Eckel/Claudia Moisel (Hrsg.), Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 24), Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 253 S., kart., 20,00 €.
In ihrem instruktiven Einleitungsaufsatz gehen die Herausgeber Jan Eckel und Claudia Moisel von der Feststellung aus, der Holocaust habe wie kein anderes Ereignis des 20. Jahrhunderts internationale Bedeutung in der Erinnerung erlangt. Zu Recht merken sie an, dass die Erforschung dieses Phänomens bislang eher durch theoretische Reflexion und weitgespannte Interpretationsangebote bestimmt gewesen sei, und weisen vorsichtig auf den Mangel an empirischen Belegen hin. Die Feststellung, diese Interpretationsangebote würden durch die auf detaillierten Quellenstudien beruhenden Aufsätze des Bandes auf eine empirische Grundlage gestellt und konkretisiert, benennt eine allzu bescheidene Zielsetzung. Denn in mehreren Beiträgen werden Befunde vorgelegt, die durchaus geeignet sind, die oft zitierten generellen Behauptungen, der Holocaust sei das ,,Gründungsereignis" einer gemeinsamen europäischen Erinnerung (Dan Diner) oder er diene gar als universelles moralisches Modell und globaler Bezugspunkt für die Erinnerung (Daniel Levy/Natan Sznaider), in Frage zu stellen. Diese Thesen werden von den fast durchweg der Nachwuchsgeneration angehörenden Autorinnen und Autoren des Bandes allenfalls behutsam differenziert, obwohl ihre Ergebnisse zeigen, dass die Entwicklungen in den untersuchten Ländern sehr heterogen und vielfach von spezifischen nationalen Konstellationen bestimmt sind, ein Bild, das noch widersprüchlicher würde, bezöge man weitere Länder ein, auch wenn es nur europäische wären. Das Fragezeichen, mit dem die Formel von der ,,Universalisierung des Holocaust" im Titel des Buches versehen ist, erscheint so als durchaus berechtigt.
Nina Burkhardt zeigt am Beispiel der Rezeption des Eichmann-Prozesses in Jerusalem, dass dasselbe medial vermittelte Ereignis sich in zwei benachbarten Ländern, den Niederlanden und Belgien, ganz unterschiedlich auf die Erinnerungskultur ausgewirkt hat. Während in den Niederlanden schon in den 1960er Jahren eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Kollaboration der niederländischen Verwaltung bei der Organisation der Deportationen zu beobachten sei, habe in Belgien der Streit zwischen Wallonen und Flamen der Wahrnehmung des Holocaust im Wege gestanden. Zu einem wichtigen Thema des öffentlichen Diskurses wurde er - wie Christoph Brüll in seinem ebenfalls Belgien gewidmeten Beitrag zeigt - erst in den 1990er Jahren. Mit dem bedrohlichen Anwachsen des Rechtsextremismus in Flandern, der Diskussion um die belgische Politik angesichts des Völkermords in Ruanda und dem von einem amerikanischen Journalisten gegen König Leopold II erhobenen Vorwurf, um die Wende zum 20. Jahrhundert für einen Völkermord an Kongolesen verantwortlich gewesen zu sein, sei eine Diskussion um Völkermordverbrechen entstanden, in der auch die Frage nach der Mitverantwortung belgischer Behörden für die Verfolgung und Deportation der Juden aufgeworfen wurde, was schließlich zu einer offiziellen Entschuldigung seitens des belgischen Premierministers Guy Verhofstadt führte.
Unter wiederum ganz anderen Voraussetzungen wird in Ungarn Geschichtspolitik betrieben, wie Regine Fritz und Imke Hansen verdeutlichen. Nach einer langen Periode des Schweigens vor 1990 ist die Entwicklung seither durch die Konkurrenz zwischen der öffentlichen Erinnerung an den Kommunismus und an den Holocaust gekennzeichnet. Obwohl die Akzentsetzungen je nach politischer Ausrichtung der einander ablösenden Koalitionen wechseln, ist die Holocausterinnerung doch eher peripher geblieben. Daran haben transnationale Einwirkungen wie die Verleihung des Literaturnobelpreises an Imre Kertesz und die mit dem EU-Beitritt verbundenen Erwartungen wenig ändern können. Die Autorinnen schreiben, dass die Erinnerung an den Holocaust trotz des offiziellen Bekenntnisses ungarischer Regierungen und der von internationalen Trends geprägten Darstellung im Budapester Holocaust-Gedenkzentrum noch nicht Teil des kollektiven Bewusstseins der ungarischen Nation geworden sei. Von einer ,,Europäisierung des ungarischen Holocaustgedächtnisses", die sie unter Berufung auf Dan Diner konstatieren zu können glauben, kann man also wohl eher im Hinblick auf die politische Rhetorik als auf die nationale Erinnerungskultur sprechen.
,,Soweit von Europa entfernt wie möglich" hat J. Olaf Kleist seinen Beitrag überschrieben, der besonders geeignet scheint, die These von der Globalisierung der Holocausterinnerung zu prüfen, geht er doch Holocaust Erinnerungen in Australien nach. Er konstatiert, dass diese Erinnerungen als spezifisch jüdischer Vergangenheitsbezug in der pluralistischen Gesellschaft Australiens Anerkennung gefunden haben. Relevanz für andere Gruppen habe der Holocaust um den Preis gewonnen, dass sein spezifischer Charakter ignoriert werde. Insbesondere in der heftigen Debatte über die Verbrechen an den Aborigines spiele die Bezugnahme auf den Holocaust eine ambivalente Rolle: als Motivation, sich mit Verbrechen in der eigenen Geschichte verstärkt auseinanderzusetzen, aber auch als Deckerinnerung, hinter der man diese verschwinden lassen könne.
Während die bisher erwähnten Beiträge dem Verhältnis zwischen transnationalen Einflüssen und national bestimmten Entwicklungen nachgehen, thematisiert Jacob S. Eder einen Konflikt zwischen zwei Regierungen und den in ihrem Auftrag handelnden geschichtspolitischen Akteuren. Er schildert die Versuche der Regierung Kohl in den 1980er Jahren, die für das im Entstehen begriffene US Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Verantwortlichen dazu zu bringen, den deutschen militärischen Widerstand und die ,,Wiedergutmachung" in die dortige Ausstellung aufzunehmen. Die sogar finanzielle Angebote einschließenden Bemühungen um Einflussnahme blieben erfolglos, und die dahinter stehende Sorge um das deutsche Ansehen und politische Gewicht der Bundesrepublik erwies sich als unbegründet.
Einen sehr originellen Zugang hat Jan Surmann gewählt. Er untersucht, wie am Ende des 20. Jahrhunderts die von Stuart Eizenstat im Auftrag Präsident Clintons geleitete US-Politik der Restitution von ,,Holocaust Era Assets", insbesondere von Raubgold, sich auf den internationalen Diskurs über den Holocaust ausgewirkt hat. Dadurch sei wieder ins Bewusstsein gerückt worden, dass der Holocaust auch ein europaweiter Raubzug gewesen sei, das Verhalten von Neutralen und sogar von Gegnern der Achsenmächte sei ins Blickfeld gerückt und die Problematisierung nationaler Nachkriegsmythen beschleunigt worden.
Jens Kroh stellt die Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF) unter der Überschrift: "Erinnerungskultureller Akteur und geschichtspolitisches Netzwerk" vor. Die Leistung dieses Zusammenschlusses von 25 Staaten besteht aber wohl eher umgekehrt im Aufbau eines erinnerungskulturellen Netzwerks und in - begrenzt erfolgreichen - Versuchen geschichtspolitischer Einflussnahme, was sich seinem Aufsatz, der das Funktionieren der ITF detailliert beschreibt, durchaus entnehmen lässt.
Harald Schmid schließlich untersucht die Etablierung des 27. Januar und einiger anderer Daten als Holocaust-Gedenktage in vielen Ländern Europas. Sein auf einer breiten Rezeption von Quellen beruhender, mit hohem theoretischem Anspruch formulierter Aufsatz bleibt bemerkenswert wortkarg hinsichtlich des östlichen und südöstlichen Europas, das der Hauptschauplatz des Holocaust war.
Daran wird deutlich, dass weitere gut belegte Detailstudien unter den Fragestellungen dieses perspektiven- und materialreichen Buches erforderlich sind, bevor begründete Aussagen über die gesamteuropäische oder gar globale Entwicklung der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik gemacht werden können.
Wolf Kaiser, Berlin