ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Mike Schmeitzner (Hrsg.), Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 34), Göttingen 2007, 404 S., geb., 44,90 €.

Das Umschlagbild, ein SPD-Wahlkampfplakat für die Reichstagswahl 1930, ist programmatisch für die zu besprechende Publikation: Ein gestählter Recke schlägt entschlossen mit seinen Ellenbogen zugleich den nationalsozialistischen Kämpfer zu seiner Rechten und den kommunistischen Streiter zu seiner Linken zurück. Kämpferisch war das Verhältnis der SPD im speziellen und der deutschen Linken im allgemeinen zum Totalitarismus aber nicht nur in der Weimarer Zeit; dies herauszustellen ist das Verdienst des vorliegenden Sammelbandes. Der Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung hatte im November 2004 zu einer Konferenz des Instituts zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Kurt-Schumacher-Gesellschaft e.V. mit dem Titel ,,Linke Totalitarismuskritik. Erklärungsmodelle und Strategien - Eine deutsche Bilanz" in die Evangelische Akademie Meißen geladen. Das Ergebnis liegt nun in einer Einleitung mit dem Titel ,,Thematische Relevanz und Konzeption" von Schmeitzner selbst und in anschließend dreimal sechs Beiträgen zu den Kapiteln ,,Frühe Analysen und Klärungsversuche (1918 bis 1933)", ,,Konzeptualisierungen im Exil (1933 bis 1945)" und ,,Theorie und Praxis im Kalten Krieg (1945 bis 1989/90)" vor. Schmeitzner beschreibt in der Einleitung das Erkenntnisinteresse wie folgt: ,,Verkürzt formuliert ist zu fragen, wie - einen linken und rechten Totalitarismus vorausgesetzt - eine totalitarismuskritische Linke, die sich ja auch auf Marx und Engels berief, scharfe Kritik, ja sogar vergleichende Analysen zu allen drei totalitären Systemen hervorzubringen vermochte" (S. 10) und ob diese Analysen Anknüpfungspunkte für die heutigen Forschung bieten. Eine erschöpfende Behandlung aller linken ,Theoretiker' war dabei freilich nicht möglich, daher greifen die Autoren zurück auf eine - bisweilen recht willkürlich anmutende - Auswahl wirkmächtiger und relevanter demokratischer und religiöser Sozialisten, Rätekommunisten, kommunistischer Renegaten und Vertreter der Frankfurter Schule.

Den inhaltlichen Auftakt macht Werner Müller mit seinem Beitrag ,,Bolschewismuskritik und Revolutionseuphorie. Das Janusgesicht der Rosa Luxemburg". Dabei kommt er zu einem mindestens zwiespältigen Eindruck von der Urheberin des gern und oft zitierten Satzes von der Freiheit des Andersdenkenden: ,,Ihre Attacken gegen Lenins Bolschewiki und das von ihnen aufgerichtete Regiment können auch deshalb kaum als eine erste Totalitarismus-Kritik ,von links' betrachtet werden, da sie letztlich - und ungeachtet ihrer nur allzu berechtigten Kritik - diese Frontstellung gegen die Sowjetdiktatur fast vollständig zurücknahm." (S. 47) Einen Antipoden Luxemburgs behandelt Jürgen Zarusky im Artikel ,,Demokratie oder Diktatur: Karl Kautskys Bolschewismuskritik und der Totalitarismus". Für Kautsky war der Ort sozialdemokratischer Politik ,,vorerst und mehr und mehr auch grundsätzlich die parlamentarische Demokratie" (S. 50). Seine kämpferische Haltung speiste sich demnach nicht aus purer Ablehnung des Bolschewismus; sie war vielmehr geprägt durch ein positives Verhältnis zum Gedanken des demokratischen Sozialismus, wie es dezidierter wohl kaum ein Linker zur Zwischenkriegszeit entwickelt hatte.

Differenzierte, ja ,historischer' war die Herangehensweise des ,,Grenzgängers zwischen russischer und deutscher Sozialdemokratie", wie Uli Schöler im Titel seines Beitrags Alexander Schifrin bezeichnet. Als gemeinsame Charakteristika von Bolschewismus und Faschismus/Nationalsozialismus benannte Schifrin die Konzentrierung und ideologische Mobilisierung der Herrschaftsmittel, den Einparteistaat und das kulturelles Monopol. Gleichwohl betonte er auch die ,,Unterschiede in den Entstehungsbedingungen, sozialen Verwurzelungen und ideologischen Zielsetzungen beider Diktaturen und ihrer Träger" (S. 82). Während Stephan Albrecht anschließend Hermann Hellers frühes Plädoyer aus den beginnenden 1930er Jahren für eine ,,wehrhafte Demokratie", die sich ihren eigenen Prinzipien auch verpflichtet fühlt und diese im Notfall verteidigt, darlegt, widmet sich Michael Rudloff den totalitarismustheoretischen Kontroversen in den ,,Neuen Blättern für den Sozialismus" (NBIS). Dabei arbeitet er sich vornehmlich an dem vernichtenden Urteil Stefan Voigts über die Autoren der NBlS ab, man hätte dem Nationalsozialismus einen positiven ,modernisierenden' und die Massen politisierenden Kern zugesprochen. Rudloff betont hingegen: ,,Die Debatte verwies auf offene Fragen und Defizite, die es den Gegnern der Demokratie ermöglichten, eine Massenbewegung gegen die Republik und die sie tragenden Kräfte zu mobilisieren." (S. 118) Er schließt seinen sehr schwachen Beitrag mit dem fragwürdigen Gedanken, der in den ,,Blättern" propagierte dynamische Autoritarimus sei womöglich die einzige Möglichkeit gewesen, nicht zwischen rechtem wie linkem Radikalismus zermahlen zu werden.

Bernd Faulenbach leuchtet anschließend die ,,Rolle von Totalitarismus- und Sozialfaschismus-,Theorien' im Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren" aus und sieht eine Ursache für die ablehnende Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem Bolschewismus im Überfalls der Sowjetunion auf das sozialdemokratische Georgien 1921. Die Verteidigung der Demokratie und die ,,Gleichsetzung" (S. 126) von deren Bekämpfern Faschismus und Bolschewismus durch die Sozialdemokraten provozierte dabei freilich die Kommunisten. Die Sozialdemokraten gleichsam im Gegenzug ,,als Sozialfaschisten zu bezeichnen, war auch aus Sicht der Zeitgenossen kaum nachvollziehbar. Gemeint war, dass Sozialdemokraten wie Faschisten die Funktion ausübten, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft mit Gewaltmitteln zu verteidigen, was im Hinblick auf beide in Programm und Zielsetzung sehr gegensätzlichen Parteien abwegig war." (S. 131)

Auf einen eher seltenen politischen Standpunkt während der Zwischenkriegszeit macht Rainer Behring in seinem Beitrag über Rudolf Hilferding und Curt Geyer aufmerksam. Deren antitotalitärer Konsens speiste sich aus der Überzeugung, dass eine parlamentarische Demokratie westlicher Prägung und eine westorientierte deutsche Außenpolitik per se das überlegene Konzept gegenüber speziell deutschen Traditionen seien. Mit Eduard Heimann stellt Gerhard Besier anschließend einen so gut wie vergessenen Autoren vor, der den Einfluss des Kommunismus auf das faschistische Programm für maßgeblich hielt und damit in der langen Reihe jener stünde, die einen Kausalzusammenhang zwischen beiden Diktaturtypen sehen.

Clemens Vollnhals widmet sich unter dem Titel ,,Ein Renegat schreibt Theoriegeschichte: Franz Borkenau (1900-1957)" einem ,Theoretiker', dessen Wendung vom autoritären Kommunisten zum Antitotalitären Mitte der 1930er nach Vollnhals' Einschätzung in der sehr genauen Beobachtung der Moskauer Schauprozesse begründet lag. Diesem Blickwinkel entsprechend richtete sich der Fokus Borkenaus auf Herrschaftstechnik, nicht so sehr auf Ideologie, zumal der Nationalsozialismus für Borkenau ohnehin puren Nihilismus bedeutete. Mit Arthur Rosenberg kommt bei Mario Kessler der wahrscheinlich bekannteste linkszionistische New Yorker Exilant zu Wort. Rosenberg vertrat die Ansicht, die totalitäre, dem Bolschewismus wie dem Faschismus/Nationalsozialismus zugrundeliegende Idee sei diejenige einer Staatswirtschaft ohne persönliche Freiheit, fand aber freilich über diesen ökonomistisch verkürzten Blickwinkel zu keiner systematischen, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Problem des Totalitarismus.

Während anschließend Mike Schmeitzner mit Otto Rühle einen ebenfalls vergessenen rätekommunistischen ,,Totalitarismustheoretiker" (S. 205) vorstellt, widmet sich Alfons Söllner dem sensiblen Thema ,,Totalitarismustheorie und frühe Frankfurter Schule". Gleich vorweg schickt Söllner die Einschätzung, die ,,Frankfurter Schule hat in ihrer formativen Phase eine Totalitarismustheorie nicht entwickelt." (S. 245), vielmehr habe man dort den Nationalsozialismus als kapitalistisch-bürgerliche Herrschaft analysiert. Nur gelegentlich und keineswegs systematisch habe man daher zum Totalitarismus-Begriff in vergleichender Absicht gegriffen, ihn andererseits aber auch nicht explizit abgelehnt. Söllner spricht hier von einer ,,Querstellung"; die Frankfurter Schule war schon aus methodischen Grundannahmen heraus totalitarismustheoretisch gleichsam sprachlos.

Mit Mike Schmeitzners Beitrag über den ,,Totalitarismusbegriff Kurt Schumachers. Politische Intention und praktische Wirksamkeit" erreicht die Chronologie des Bandes die Nachkriegszeit. Schmeitzner stellt deutlich heraus, dass Schumacher stets und auch schon in der Weimarer Republik dem staatsbejahenden Flügel der SPD angehörte. Angewidert begleitete er 1923 zudem journalistisch den ,,Schlageter-Kurs" der KPD in Stuttgart. Ende der 1920er Jahre sah Schumacher ,,soziologisch, seelisch, methodologisch und staatsrechtlich die stärksten Ähnlichkeiten zwischen Faschismus und Bolschewismus" (S. 254), die er heftig kritisierte, allerdings nicht theoretisch erörterte.

Auch der folgende Beitrag ,,Arno Hennig, Carlo Schmid und die Totalitarismuskonferenz der SPD im Juni 1947" stammt aus der Feder des Herausgebers; hier werden die zweitätige SPD-Konferenz im Juni 1947 mit dem Hauptthema der ,,Geistigen Grundlagen des Totalitarismus" (Referat Carlo Schmid) und die sich entwickelnde Argumentationslinie gegen den Marxismus als Weltanschauung und für den Sozialismus als ,,Lebensanschauung", die durchaus auch ethisch oder religiös begründbar sei, als wichtige Etappe auf dem Weg nach Godesberg 1959 benannt. Siegfried Heimann zeigt unter dem Titel ,,Ernst Reuter - Hoffnungen eines (Re)Migranten auf dem Prüfstand Berlin", dass Reuter schon seit 1923 in der Macht- und Militärvergötterung von Kommunisten und Faschisten ein einigendes Band erblickte. Auch beim großen Berliner Regierenden Bürgermeister findet sich indes nur ein ,,gängiger Totalitarismusbegriff", aber kein theoretisches Konzept.

Uwe Backes, der sich mit Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal auseinandersetzt, legt dar, dass beide Politikwissenschaftler nur mühsam aus ihrem marxistischen Grundverständnis zu einer Verknüpfung von Faschismus- und Kommunismuskritik fanden. Noch 1944 hielt Fraenkel ,,Totalitarismus" für eine künstliche Einheit von unterschiedlichen Staatstypen, während Löwenthal immerhin schon 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt die beiden Regime als ,,System der totalitären Unterdrückung" (S. 342) bezeichnete. Ob damit allerdings die ,,Einsicht" in eine ,,verhängnisvolle Wechselwirkung der Extreme" (S. 354) einherging, ist eine zumindest gewagte Annahme von Backes.

,,Es besteht kein Anlass, Marcuse als vergessenen Totalitarismustheoretiker (wieder) zu entdecken, wohl aber genügend Grund, totalitären Strukturen in seinem Denken nachzugehen" (S. 375) Eckhard Jesse gibt sich in seinem Beitrag über den philosophischen Star der 68er-Bewegung alle Mühe, Marcuses Denken selbst als totalitär zu diskreditieren. So habe Marcuse den ,,Totalitarismus" auch in den liberalen Produktionsverhältnissen, in der ökonomisch-technischen Gleichschaltung, sprich: in der westlichen Welt selbst erblickt. Eine vergleichende Auseinandersetzung zwischen Faschismus/Nationalsozialismus und Bolschewismus sei daher auf der theoretischen Grundlage Marcuses gar nicht möglich gewesen, da Letzterer als nicht-kapitalistisches System per definitionem gar nicht totalitär hätte sein können. Aus dieser Perspektive muss für Jesse freilich feststehen: ,,Für die differenzierte Totalitarismusforschung fällt Herbert Marcuse damit aus. Seine Konzeption wird eher zu ihrem Objekt." (S. 371)

Den Band beschließt der Beitrag Bernd Faulenbachs über die ,,demokratische Linke und die Umwälzung 1989/90." Die Sozialdemokratie sah sich seinerzeit gezwungen, ihr Verhältnis zur Nation, zum Kommunismus und der SED sowie zum Totalitarismus zu klären. Gleichwohl sei die SPD freilich schon in Weimar antitotalitär, die Ostpolitik später keine Aufgabe, sondern lediglich ein ,,'Zurückstufen' der ideologischen Auseinandersetzung" gewesen (S. 381). Zudem schien der Realsozialismus ab den 1970er Jahren tatsächlich ,,weniger totalitär" zu werden, so dass in der darauffolgenden Dekade die SED für die SPD vermehrt zum ,normalen' sicherheitspolitischen Partner wurde.

Insgesamt hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Das betrifft nicht nur Äußerlichkeiten: Ein sorgfältigeres Lektorat hätte etliche Fehler in der Orthografie und der Zeichensetzung sowie gelegentliche Wortwiederholungen abgestellt. Vieles erscheint gedruckt immer noch so, wie es offenbar als Vortrag gehalten worden ist. Literaturhinweise finden sich lediglich und unweigerlich unsystematisch in den Fußnoten der einzelnen Beiträge, die überdies einzig über ein Personenregister erschlossen sind. Schwerer aber wiegt, dass der Band auch inhaltlich kaum befriedigen kann - jedenfalls nicht im Sinne des einleitend formulierten Interesses Schmeitzners: Die vorgestellten Autoren und ihre Schriften eröffnen keine Perspektiven für die heutige Totalitarismusforschung, es handelte sich eben in erster Linie um zeitbedingte Auseinandersetzungen mit einem politischen Gegner und nicht um ,Analysen' der totalitären Regime im eigentlichen Sinne. Die hier behandelten Werke sind daher historiografisch interessant, methodisch oder gar theoretisch allerdings von sehr begrenztem Wert.

Peter Kox, Bonn


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