ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bernd Hey/Volkmar Wittmütz (Hrsg.), 1968 und die Kirchen (Religion in der Geschichte, Bd. 17), Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2008, 299 S., brosch., 29,00 €.

Dieser Band geht auf eine Tagung zurück, welche die Kommission für kirchliche Zeitgeschichte der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Ausschuss für Rheinische Kirchengeschichte und kirchliche Zeitgeschichte im März 2007 veranstaltet haben. Das erklärt den regionalen Fokus des Bandes, der vorwiegend Beiträge zu den evangelischen Landeskirchen in Westfalen und dem Rheinland enthält, allerdings mit einem Beitrag zur katholischen Kirche auch über die protestantische Binnenperspektive hinausweist. Bezüge zur in letzter Zeit reichlich fließenden Forschungsliteratur über die sozialhistorische Signatur der Zeit vom Beginn der sechziger Jahre bis 1968 in der Bundesrepublik finden sich in allen Beiträgen. Hinweise und Bezugnahmen auf die national und international vorliegende Literatur über die Bedeutung der sechziger Jahre als einer Epochenschwelle der Religionsgeschichte in der Moderne fehlen allerdings völlig, wobei hier neben den Arbeiten von Callum G. Brown zu Großbritannien vor allem an die vergleichende Studie von Hugh McLeod zur ,,Religious Crisis of the 1960s" (Oxford 2007) zu denken ist, deren wichtigste Ergebnisse McLeod vorab in Aufsatzform veröffentlicht hat, oder an die Arbeiten von Patrick Pasture und seinen Schülern.

Die Perspektive des Bandes ist also eher selbstbezüglich-binnenprotestantisch, was allerdings empirisch dichte Beiträge nicht ausschließt. So zeigen Bernd Hey und Uwe Kaminsky in zwei erhellenden Aufsätzen auf, wie und warum um 1970 kirchliche Strukturreformversuche scheiterten bzw. nur in Schwundformen umgesetzt werden konnten. Eine im Anschluss an die kommunale Gebietsreform in NRW diskutierte Neuordnung der Kirchenkreise in der westfälischen Landeskirche scheiterte an deren Widerstand, der durch die völlig schematische Planung der Neuordnung leichtes Spiel hatte. Im Rheinland verband sich die seit 1966 von einem Ausschuss vorangetriebene Reform der Mittelebene mit Überlegungen, ,,gegliederte Gesamtgemeinden" von etwa 50.000 Protestanten zu schaffen, in denen funktional spezialisierte pastorale Dienste angeboten werden könnten (S. 82). Solche an Widerständen in den Pfarrgemeinden rasch gescheiterten Pläne gingen zwar, wie Uwe Kaminsky zu Recht betont, an den Interessen der meisten einfachen Kirchenmitglieder vorbei. Ihre Darstellung ist dennoch höchst relevant, nicht zuletzt deshalb, da der in den siebziger Jahren stärker werdende evangelikale Protest der Bekenntnisbewegung ,,Kein anderes Evangelium" genau gegen eine solche funktionale Spezifizierung der Pastoral unter dem Motto protestierte, die ,,Gemeinde ist kein Funktionsbereich, sondern ein Leib, der Leib Christi" (zit. S. 87). Der Reformeifer um 1970 und das Erstarken des evangelikalen Protests gegen eine horizontal-funktionale Kirchenkonzeption waren also dialektisch aufeinander bezogen.

Spannende Perspektiven für eine gesellschaftsgeschichtlich relevante Kirchengeschichte eröffnen auch die Beiträge von Norbert Friedrich und Barbara Randzio über die Transformation der diakonischen Arbeit am Beispiel der Diakonissenanstalt Kaiserswerth bzw. der von Bodelschwing'schen Anstalten in Bethel. In beiden Kontexten wurden die von 1968 ausgehenden Impulse zur Demokratisierung und Reform gesellschaftlicher Institutionen aufgegriffen, allerdings mit widersprüchlichen Effekten. Demokratisierungshoffnungen führten mittelbar zur Aufnahme gruppendynamischer und therapeutischer Ansätze in die diakonische Arbeit. Sie gingen einher mit einem wachsenden Pluralisierungs- und Professionalisierungsschub des pflegerischen und ärztlichen Personals, der allerdings mit einem ,,theologischen Kompassverlust" einherging (S. 147). Mit der Einführung der Teamarbeit legte Bethel den überkommenen Charakter der ,Anstalt' endgültig ab, sah sich aber als Unternehmen nun, wie Hans-Walter Schmuhl in einem luziden Kommentar betont, neuen, ökonomischen Zwängen ausgesetzt.

Geschlechtlich codierte Lebensentwürfe zwischen Tradition und ,Alternative' behandeln die Beiträge der folgenden Sektion. Beate von Miquel beschreibt, wie sich die evangelische Frauenhilfe in Westfalen mit ihren etwa 120.000 Mitgliedern schrittweise von ihrem traditionellen Leitbild der Frau als Hausfrau und Mutter verabschiedete und Familienerholungsangebote als Fortschreibung der konventionellen Mütterschulung entwickelte. Erfolglos blieben jedoch die Bemühungen der Frauenhilfe, in dem expandierenden Feld der Beratung schwangerer Frauen über den § 218 Fuß zu fassen, da sie mit den professionalisierten Dienstleistungen von Sozialpädagogen und Psychologen nicht konkurrieren konnte. Franz-Werner Kersting schildert Geschichte, Radikalisierung und Kriminalisierung des Sozialistischen Patientenkollektivs in Heidelberg, das im Kontext der Bewegung der Antipsychiatrie entstand, ohne dass dabei substanzielle Querbezüge zu den Kirchen in und um 1968 deutlich werden würden. Dies lässt sich tendenziell auch von zwei Beiträgen zur Gewaltproblematik sagen. Freia Anders beschreibt die Rolle der evangelischen Kirchen von Hessen und Nassau in dem seit 1978 eskalierenden Konflikt um die Startbahn West am Flughafen Frankfurt/Main. Die evangelische Basis unterstützte Aktionen gewaltfreien Protestes gegen die Pläne, und 1980 wurde eine Hüttenkirche im am Bauzaun errichteten Hüttendorf ein lebendiges Zentrum alternativen Christenlebens im Zeichen einer Kirche von unten. In der sehr detaillierten Schilderung der Protestchronik geht allerdings die Frage verloren, welche Bezüge zu 1968 und zu den in dessen Gefolge entstandenen Entwürfen einer politischen Theologie diese Aktivitäten aufwiesen. Gisela Diewald-Kerkmann zeigt, wie die Strafverfolgungsbehörden in den Biografien der RAF-Täter der ersten Generation nach Spuren einer protestantischen Prägung suchten, welche die Bereitschaft zum (bewaffneten) Widerstand plausibel machen sollte. Sie lehnt jedoch solche Kausalketten als vereinfachend ab, zumal sie nur der ,,Schuldzuweisung und Ausklammerung der gesellschaftlichen Mitschuld gedient" hätten (S. 244).

Unter dem Rubrum der ,,Ökumene" sind schließlich die beiden letzten Beiträge in den Band aufgenommen worden. Pascal Eitler zeichnet, an eigene frühere Veröffentlichungen anknüpfend, die Konturen des christlich-marxistischen Dialogs in den späten sechziger Jahren nach, in dem Theologen wie Dorothee Sölle, Helmut Gollwitzer und Johann Baptist Metz eine ,,Konversion zur Welt" auf die theologische Agenda setzten (zit. S. 255). Mit dem ,,Dialog" griffen sie eine der theologischen Schlüsselvokabeln der Zeit auf, die nicht nur im nachkonzialiaren Katholizismus eine Öffnung zu politischen Fragen signalisierte. In der Rückschau wird dabei allerdings deutlich, dass manche dieser theologischen Sprachspiele, im Gegensatz etwa zu den Arbeiten von Karl Rahner, der zur selben Zeit die katholische Tradition selbstreflexiv modernisieren wollte, tatsächlich nur zeitbedingte rhetorische Spiele waren, so etwa wenn Dorothee Sölle formulierte, dass ,,Aufstand und Auferstehung zusammengehören [...]. Aufstand ist das Auferstehen aus politischem Schlaf" (zit. S. 258). Christian Schmidtmann schließlich gibt einen informativen Überblick über die inneren Konfliktlinien und -themen des postkonzialiaren Katholizismus. Beim Lesen jedoch stutzte der Rezensent, da es sich bei einem Satz (S. 278) um eine fast wortgenaue Entlehnung aus meiner Habilitationsschrift handelt, aus der Schmidtmann zuvor noch ein nur wenige Seiten entferntes Zitat angeführt hat (S. 276). (1) Es ist ein Plagiat im minderschweren Fall, aber formulieren sollte man seine Texte dennoch selber - oder zumindest besser exzerpieren.

Mit Blick auf ein Resümee lässt sich vor allem auf die Beiträge zur Diakonie und Strukturreform verweisen, die deutlich machen, dass die Wirkungen von 1968 auf die christlichen Kirchen vermutlich weniger in den kurzfristigen Aufwallungen innerkirchlicher Protestbewegungen zu suchen sind. Sie sind vielmehr in den sich nun beschleunigenden Debatten über eine Reform des kirchlichen Apparates und seiner Tochterinstitutionen, eine Reform, die jedoch neben demokratisierenden auch bürokratisierende Effekte freisetzte und deshalb in ihren mittelfristigen Folgen nicht anders als ambivalent bezeichnet werden kann, zu verorten. (2) Mit Spätfolgen der Erfahrung des Kirchenkampfes im Nationalsozialismus, wie Jochen-Christoph Kaiser behauptet, hat der seit 1968 erfolgende Umbruch wohl weniger zu tun (S. 294). Treffend erscheinen vielmehr die Bemerkungen von Traugott Jähnichen in seinem Kommentar. Er verweist auf den tiefen semantischen Umbruch, mit dem etwa das Konzept der ,,Mission" aufgegeben und durch ,,Dialog" ersetzt wurde. Er mahnt weiterhin zu Recht dazu, neben den Aufbrüchen im Gefolge von 1968 nicht die Enttäuschungen und Abbrüche zu vergessen. Paradigmatisch verweist er dafür auf Jürgen Moltmann, der 1972 die Kreuzestheologie wieder aktualisiert hat und damit darauf insistierte, dass die von den 1968ern - wie oben gezeigt - ubiquitär in Anspruch genommene Auferstehung eben ohne das Geschehen der Kreuzigung nicht zu denken ist (S. 284f.).

Der vorliegende Band enthält viele empirisch fundierte und gedanklich anregende Beiträge und Kommentare zum Wandel der evangelischen Kirchen seit den späten sechziger Jahren. Er steht jedoch in Idealkonkurrenz zu einem thematisch vergleichbaren, bereits 2007 erschienen Band, der mir wegen seiner insgesamt systematischer angelegten Beiträge und der Einbeziehung wichtiger Themen wie etwa des gottesdienstlichen Rituals, der Kirchenmusik und der Evangelischen Kirchentage weiter zu führen scheint als der vorliegende. (3)

Benjamin Ziemann, Sheffield

Fußnoten:


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