ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Matthew Stibbe, British civilian internees in Germany. The Ruhleben camp, 1914-18, Manchester University Press, Manchester/New York 2008, 210 S., geb., £ 55,00.

Dass kommende Kriege zunehmend die ganze Gesellschaft einbeziehen und sich das Kriegsbild hin zu einem ,,Volkskrieg" wandeln würde, bemerkten aufmerksame Zeitgenossen bereits in der Epoche der Napoleonischen Kriege. Ein Ergebnis dieses Prozesses war nicht nur das Faktum, dass Soldaten im 19. Jahrhundert den Kampf für das Vaterland als motivans im Krieg auffassten, vielmehr griff dieser auch vermehrt auf die Zivilbevölkerung über. 1870/71 zeigten sich Formen einer ,,Heimatfront", die sich in vielfältiger Weise für den Krieg engagierte, wie Alexander Seyferth kürzlich gezeigt hat. Hier war in nuce angelegt, was nach 1914 schließlich überwältigend in das öffentliche Bewusstsein drang: dass sich Krieg und Gesellschaft unter nationalen Vorzeichen auf vielfältige Weise miteinander verwoben hatten, unter anderem in Fragen der Rüstung, Wirtschaft oder Ernährung. Dieses Verwobensein führte in den hitzigen Juli- und Augusttagen 1914 schließlich dazu, dass Angehörige der gegnerischen Staaten zu einer Gefahr für die innere Sicherheit geworden zu sein schienen, allerorten wurden sie als ,,Spione" sistiert. In diesem Themenkomplex um Nationalismus und Krieg ist die Untersuchung Matthew Stibbes zu verorten, welche die britischen Zivilinternierten im Deutschen Kaiserreich während des Ersten Weltkrieges in den Blick nimmt.

Der Gegenstand erscheint zunächst ein wenig unbedeutend: Im Mittelpunkt steht das Leben von etwa 4.000 Männern über einen Zeitraum von vier Jahren. Dennoch erweist sich diese kleine Studie aus dem Großen Krieg als sehr fruchtbar, indem sie sich einem bislang kaum behandelten, facettenreichen Thema zuwendet und hier zeigt, welche Verhaltensmuster eine soziale Gruppe unter erheblichem Druck von innen und außen entwickeln kann. Die Studie untersucht das Internierungslager Ruhleben als ,,imagined community". Dabei sollen die Rolle von Klasse, Nationalität, Hautfarbe und Bildung in ihren Auswirkungen auf die Erfahrung der Internierungszeit berücksichtigt werden (S. 4). Das Konzept der ,,imagined communities" stammt genuin aus der Nationalismusforschung, doch ist es auch in der Lage, erkenntnisleitend Kohärenz und Divergenz von Gemeinschaften unterhalb der nationalen Ebene zu erfassen. Um diesen Gegenstand zu erhellen, werden Erinnerungen, Zeitungsartikel und Aktenmaterial herangezogen. Nach grundsätzlichen Anmerkungen zur Internierungspolitik in Deutschland (S. 23-51) konzentriert sich die Untersuchung auf die Organisation der Lagerverwaltung, die Unterbringung und Versorgung der Gefangenen (S. 52-78) sowie Formen der Gemeinschaft im Lager (S. 79-110). Fürsorge und Strafen werden ebenso gesondert untersucht (S. 111-136) wie das Ende der Internierung 1918 (S. 137-162). Das Buch schließt mit der Frage nach der Erinnerung an Ruhleben (S. 163-183).

Im ersten Teil des Buches kann der Autor überzeugend die vielfältigen Prozesse darlegen, die zur Internierung führten, wobei hauptsächlich politische und propagandistische Argumente eine Rolle spielten (S. 24). Dabei war nicht immer einfach zu entscheiden, wer nun zu internieren war: Zuweilen lebten die Betroffenen bereits seit ihrer Geburt im Deutschen Reich. Die gesetzlich verankerten Nationalitätskonzepte, die sich in den polizeilich geführten Listen spiegelten, stießen hier schnell an ihre Grenzen (S. 28, 190-192). Ursprünglich war die deutsche Seite bestrebt, alle Zivilisten mit den gegnerischen Mächten auszutauschen, was an unterschiedlichen Forderungen und dem Widerstand der Briten 1914 scheiterte. Jene hatten wesentlich mehr Zivilinternierte in ihrem Gewahrsam als das Reich (S. 31-33). Auch die sogenannte öffentliche Meinung spielte bei diesem Prozess, so Stibbe, vor allem nach antideutschen Ausschreitungen in England eine wichtige Rolle. Nach dem Scheitern der Verhandlungen nahm im Oktober und November 1914 die Polizei schließlich Verhaftungen vor. Das Lager Ruhleben wurde dann auf einer Rennbahn bei Berlin eingerichtet.

Den einzelnen Baracken standen Obleute aus Reihen der Internierten vor, darüber gab es den Posten des ,,Oberobmanns des Lagers", dem auch Botengänge und Besorgungen jenseits des Zaunes erlaubt waren. Über allem wachte die militärische Lagerleitung, die auch die Aufteilung der Gefangenen auf die Baracken vornahm. Dabei, so der Autor, traten auch Formen von Antisemitismus unter den deutschen Soldaten und britischen Zivilisten auf. Als eine jüdische Baracke eingerichtet wurde, um die Versorgung mit koscherer Nahrung zu gewährleisten, wurde eben diese Baracke unter Schmuggelverdacht gestellt und regelmäßig durchsucht. Zugleich kursierten Gerüchte unter den anderen Lagerinsassen, dass ihre Bewohner bessere Verpflegung als andere zugeteilt bekämen (S. 59, 66). Nach den schlechten Ausgangsbedingungen im ersten Kriegsjahr verbesserten sich die Bedingungen in Ruhleben, so dass Mängeln wie Enge, Kälte oder Lichtmangel sukzessive abgeholfen werden konnte.

Als gemeinschafts- und identitätsstiftende Momente wertet Stibbe kulturelle und soziale Veranstaltungen. Er entfaltet ein Panorama von musikalischen, Theater- oder Sportveranstaltungen, welche die Internierten in Ruhleben arrangierten. Selbst eine Parlamentsnachwahl nach heimatlichem Vorbild wurde 1915 abgehalten, freilich ohne direkte Auswirkung auf die Sitzverteilung in Westminster. Dennoch spiegelte sich unter den Internierten unterschiedlicher Herkunft die Klassenstruktur Großbritanniens mit ihren Spannungen und Konflikten wider. Der Autor neigt hier allerdings dazu, den inneren Zusammenhalt der Kriegsgefangenen unter soziokulturellen Aspekten überzubewerten. Er konstatiert: ,,Ruhleben was a real community" (S. 104), doch bleibt in diesem Zusammenhang der äußere Druck, der die Ungleichheiten unter den Insassen ebenso zeitweise zu nivellieren vermochte, unbeachtet: das Gefühl der Fremdbestimmtheit und des Gefangenseins in einem gegnerischen Land im Krieg. Angesichts der britischen Seeblockade und der guten Versorgung Ruhlebens mit Nahrungsmitteln wurden vonseiten der Alldeutschen Stimmen laut, an den Internierten Vergeltung zu üben und ihnen die gleichen Sätze wie der deutschen Zivilbevölkerung zukommen zu lassen (S. 127-130), was von Seiten der Regierung indes abgelehnt wurde. Zur stetig optimierten Versorgung des Lagers hatten 1916 und 1917 von britischer Seite eine zunehmende Zentralisierung der Ressourcen und ein wachsendes privates Engagement - auch von Deutschen - beigetragen. Dabei war auch die Industrie durch Spenden bestrebt, sich die Weltmärkte nach Kriegsende durch gute Behandlung von Zivilisten gegnerischer Mächte wieder zu öffnen (S. 146). Dieses existenzielle Ungleichgewicht der Lebensmittelversorgung bestimmte schließlich auch das Denken der Internierten in den letzten Kriegsmonaten. Sie trafen deshalb Vorbereitungen für eine als möglich erachtete Erstürmung des Lagers durch die hungrige Bevölkerung (S. 152f.). Doch hatten die Umstände der vierjährigen Internierung auch ihre Spuren hinterlassen, viele Lagerinsassen klagten über nervöse Zustände, Antriebslosigkeit und moralischem Verfall (S. 150f.). Nahm die britische Öffentlichkeit über die Kriegsjahre noch regen Anteil am Schicksal der ,,Ruhlebenites", verschwand das Lager nach 1920 jedoch rasant aus der entstehenden Erinnerungskultur des Ersten Weltkrieges. Angesichts der vielen Toten, der Gewalt und häufig beschworenen Opfer der Soldaten erwies sich ein Lager mit Zivilinternierten als unzeitgemäßes Repräsentationsmuster für Leiden und männlichen Heroismus im Krieg (S. 168, 171, 174f.). Die Geschichte Ruhlebens findet daher auch kaum Erwähnung in der Geschichtsschreibung. Dabei wäre daraus, so hält der Autor ausblickend fest, doch einiges zu lernen gewesen - was Flüchtlinge und Kriegsopfer im Zweiten Weltkrieg schmerzlich zu spüren bekamen (S. 178).

Matthew Stibbe ist es gelungen, ein anregendes Thema in angemessenem Umfang gut lesbar darzustellen. Dabei eröffnet sein Buch freilich viele neue Fragen. Wie nahm die deutsche Bevölkerung, vor allem die Anwohnerschaft der näheren Umgebung von Ruhleben, das Lager und die dort herrschenden besseren Versorgungsbedingungen wahr? Wie gestalteten sich die Verhältnisse in anderen Lagern mit Zivilinternierten? Auf welche Weise wurde die Zivilinternierung in der internationalen Propaganda instrumentalisiert? Wie entwickelte sich die Struktur der staatlichen und privaten Fürsorge? Welche Formen internationaler Kooperation existierten dabei? Weitere Fragen aufzuwerfen ist ebenfalls ein Verdienst; und die Aufmerksamkeit der Forschung für die Zivilinternierten aller Nationen im Ersten Weltkrieg zu steigern kann diesem Buch hoffentlich gelingen.

Christoph Nübel, Bremen


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