ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Freytag, Nils/Diethard Sawicki (Hrsg.), Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne, Wilhelm Fink Verlag, München 2006, 190 S., kart., 19,90 €.

Das Buch gliedert sich in das programmatische Vorwort von Nils Freytag und Diethard Sawicki ,,Verzauberte Moderne. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf das 19. und 20. Jahrhundert" und sechs regionale Fallbeispiele in Europa. In dem Vorwort wird die methodische Frontstellung zwischen Historischer Sozialgeschichte und Kulturgeschichte bestärkt, die für den Rezensenten vor allem als Generationskonflikt innerhalb der deutschen Historiografie nachvollziehbar erscheint. Allerdings hatte das angeblich so lange aufgrund sozioökonomischer Blickrichtung vernachlässigte Thema einer Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bereits 1988 mit Thomas Nipperdeys (als vorweggenommener Auszug seiner ,,Deutschen Geschichte") erschienener ,,Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918" ein Standardwerk vorzuweisen.

,,Anders als von der Geschichtswissenschaft lange behauptet, ist die These einer fortschreitenden ,Entzauberung der Welt' als Kennzeichen der Moderne nicht mehr haltbar. Magische Vorstellungen und Praktiken, ekstatische religiöse Erfahrungen, das Verschmelzen magischer und naturwissenschaftlicher Wissensbestände erweisen sich beim Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert als durchgängige Phänomene, die das ,bürgerliche Zeitalter' in einem neuen, irritierenden Licht zeigen", heißt es im Klappentext als Zusammenfassung der Aussagen des Vorworts. Es gehe also den Herausgebern um die Neudefinition der ,,Moderne" - Morris Bermans ,,Wiederverzauberung der Welt am Ende des Newton'schen Zeitalters" (1983) gegen Max Webers Entzauberungsthese in Position bringend.

Die Herausgeber selbst stecken den Untersuchungsbereich einer ,,magischen" oder ,,verzauberten Moderne" besonders auf den Feldern der Frömmigkeits- und Religionsgeschichte sowie der Medizin- und Psychologiegeschichte ab, auf denen die Fallstudien angesiedelt sind. Jedoch ist auch von dort her nicht die bisherige ,,entzauberte Moderne" durch eine ,,(wieder)verzauberte Moderne" zu ersetzen, wie es als Vorhaben im zitierten Klappentext anklingt. Vielmehr formulieren die Herausgeber ganz richtig: ,,Ein Charakteristikum des bürgerlichen Zeitalters war und ist daher gerade das Nebeneinander und Ineinandergreifen vermeintlich vormoderner magisch-religiöser und scheinbar moderner aufgeklärt-zweckrationaler Weltsichten. Die historisch Handelnden verfügten offenbar vielfach über beide dieser Weltsichten, kombinierten sie, wechselten zwischen ihnen und verflochten sie teilweise unentwirrbar miteinander. Aus dieser Perspektive stehen Wunder, Magie und Rationalität in einem Spannungsverhältnis zueinander, das jedes Mal aufs Neue analysiert werden muss" (S. 13 f.).

Nun war das auch schon bisher die übliche historiografische Sichtweise: Die ,,Moderne" wird begleitet von Bestrebungen der Gegenmoderne und vermischt sich mit Elementen der ,,Vormoderne". So scheinen es auch die Herausgeber zu sehen: ,,Das, was wir als Moderne verstehen, [...] verlief weit weniger linear, als zumeist angenommen. Vielmehr sind es die vielen Zwischentöne und durchaus gegenläufigen Tendenzen, welche diesen Prozess kennzeichnen" (S. 15). ,,Moderne, Vormoderne und Gegenmoderne [wurden] miteinander verwoben" (S. 18). Auch die ältere Vorstellung von ,,Krisen" der Moderne wird übernommen (S. 22). Es entfällt dabei also lediglich ein teleologisches Element: ,,Kulturgeschichtlich sensibilisierte Historiker erkennen keine linear fortschreitende Modernisierung mehr, sondern allenfalls verschiedene Modernisierungsstränge, die sich manchmal berühren, manchmal verflechten, häufig unverbunden nebeneinander verlaufen. Aus ihnen musste nicht zwangsläufig die ,moderne Moderne' als Siegerin hervorgehen" (S. 23f.).

Merkwürdigerweise gehen die Herausgeber nicht so weit, die ,,moderne Moderne" als das zu kennzeichnen, was sie bis heute ist: eine Zeit der gescheiterten innerweltlichen Erlösungsversprechungen, eine Zeit der Heillosigkeit, die zu immer neuer Heilssuche anregt und dabei selbstverständlich ebenso auf den Fundus traditioneller Religiosität zurückgreift als diesen durch ,,Neureligionen" (wie etwa Spiritismus, Theosophie oder Christian Science) modernisiert. Gerade die Beobachtung der esoterischen Elemente in der Kunst der ,,Moderne" hat ja außerdem die ,,irrationale" Basis des Projekts der ,,Moderne" ins helle Licht gerückt.

Die sechs Fallstudien selbst bekräftigen, dass es jedenfalls nicht, wie der Klappentext suggerierte, um ,,Wiederverzauberung" kontra ,,Entzauberung" der Moderne geht. Vielmehr erleben wir Formen der Teilhabe vormoderner religiöser Erscheinungen wie ,,Ekstase" oder ,,Besessenheit" an der ,,Moderne". Die Schranken zwischen ,,Moderne" - ,,Vormoderne" - ,,Gegenmoderne" verlieren dabei im Lebensvollzug ihre theoretische Unüberwindlichkeit und werden in eigentümlichen Verbindungen durchlässig. Selbst das ,,Wunderbare" erweist sich als anschlussfähig an die ,,Moderne" und als modernisierungsfähig. Neureligiöse Bewegungen modernisierten sich etwa, indem sie sich aktuelle medizinische oder technische Konzepte aneigneten und in ihre Lehren einbauten, wie etwa Rhodri Haywards Beitrag zeigt. So entstanden auch eigentümliche therapeutische Heilslehren wie der Mesmerismus. Freilich darf in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass Peter Sloterdijk seinen ,,Zauberbaum" bereits 1985 veröffentlichte und Jahre zuvor verfasst hatte.

Schließlich eignen sich Fallstudien wie Bernhard Gissibls Beitrag über Wunderheilungen, Visionen und ekstatische Frömmigkeit im bayerischen Vormärz oder Nicole Prieschings Darstellung der Ekstatikerin Maria von Mörl und ihres starken Eindrucks auf katholische Führungspersönlichkeiten sehr wohl für eine sozioökonomische Analyse: So sind etwa ,,einfältige" ekstatische Mädchen in ,,vormodernen" dörflichen Milieus als Faszinosum für männliche städtische Intellektuelle mit politischen Ambitionen ein sozialgeschichtliches Thema, das sich über die genannten Beispiele hinaus auch in den Lebensgeschichten von Bernadette Soubirous oder Therese von Konnersreuth wiederholt.

Und natürlich schließt sich daran die Frage an, ob diese ,,Verzauberungen" eine typische mentale Reaktion katholischer Milieus auf die ,,Moderne" war und wo die Parallelen in den nicht-katholisch geprägten westlichen Industriegesellschaften lagen. Und weiter: Gibt es doch eigentümliche nationale Ausprägungen der ,,Wunderwelten", etwa als typische Verwerfungen der deutschen Gesellschaft vom Vormärz über den Wilhelminismus bis zur Weimarer Republik - Zeitabschnitte, welche in der Einleitung auch explizit angesprochen werden. Und schließlich - die Herausgeber erwähnen diesen Punkt selbst (S. 23): Für eine transnationale europäische Perspektive ist die Begegnung der europäisch-amerikanischen ,,Moderne" mit den Wunderwelten der angeblich ,,primitiven" und ,,exotischen" außereuropäischen Kulturen von Bedeutsamkeit. Aber auch hier gilt es, die politische und sozioökonomische Ebene von Kolonialismus und Imperialismus nicht zu vernachlässigen.

Mit anderen Worten: Entgegen den Intentionen der Herausgeber sind Historische Sozialwissenschaft und Kulturwissenschaft aufeinander bei der Erkenntnissuche angewiesen. Dann wäre es auch möglich, die von den Verfassern und Herausgebern gänzlich vernachlässigten, aber immer noch aktuellen Probleme von technologischen, sozialen und ökonomischen Risiken der ,,Moderne", wie sie etwa Thomas Rohrkrämer in seiner Habilitationsschrift ,,Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933" (1999) thematisiert hatte, in Beziehung zu zeitgenössischen religiösen Heil- und Heilungsversprechen zu setzen.

Ulrich Linse, München


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