Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Lüder Meyer-Arndt, Die Julikrise 1914. Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2006, 407 S., geb., 24,90 €.
Der Erste Weltkrieg als ,,Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan) findet in der interessierten Öffentlichkeit bis heute großes Interesse. Das gilt auch für den Ausbruch des Krieges. Von der Propaganda der Krieg führenden Parteien über die ,,Kriegsschulddebatte" der Zwischenkriegszeit und die Fischer-Ritter-Kontroverse bis hin zur unlängst diskutierten Frage nach der Vermeidbarkeit des Krieges sind die Ursachen und Anlässe des Krieges immer wieder Thema politischer publizistischer und fachhistorischer Debatten gewesen. Resultat der jahrzehntelangen Auseinandersetzungen über und mit dem Kriegsausbruch 1914 ist neben politisch motivierter Polemik und umfangreichen Quelleneditionen eine nicht mehr überschaubare Fülle an geschichtswissenschaftlichen Darstellungen und Analysen. Lüder Meyer-Arndt hat dieser umfangreichen Literatur einen weiteren Beitrag hinzugefügt.
Meyer-Arndts Analyse der Julikrise von 1914 befasst sich, wie der Untertitel bereits verdeutlicht, nicht damit, wer Schuld oder die primäre Verantwortung für den Ausbruch des Krieges trug. Der Autor befasst sich nur mit der Rolle Deutschlands, oder genauer, mit der Rolle der Entscheidungsträger in den zivilen und teilweise auch den militärischen Eliten des Deutschen Reiches im Juli 1914. Er geht dabei chronologisch vor und versucht alle wichtigen Stationen des Entscheidungsprozesses zwischen dem 28. Juni und dem 4. August 1914 zu rekonstruieren. Meyer-Arndt stützt sich in erster Linie auf die zahlreichen publizierten Quellen, bezieht aber auch Teile der Forschungsliteratur in seine Darstellung ein. Auf 268 Seiten breitet er die Schilderung des Geschehens aus. Viel Neues wird ein mit der Literatur zum Kriegsausbruch vertrauter Leser allerdings zumeist nicht finden. Das hat mit den von Meyer-Arndt herangezogenen Quellen zu tun, aber auch mit anderen Grenzen, die seiner Untersuchung gesetzt sind. Das Ausblenden der internationalen Dimension der Julikrise führt zu einer Verengung des Interpretationsrahmens. Das wird besonders deutlich beim Vergleich mit den Studien von Holger Afflerbach und Friedrich Kießling. (1)
Der von Meyer-Arndt gewählte Ansatz fügt sich in einen Forschungstrend ein, denn die Rolle von Individuen oder kleinen Gruppen von Entscheidungsträgern ist in den letzten Jahren in der Ursachenforschung zum Ersten Weltkrieg wieder auf verstärktes Interesse gestoßen. Der Rückbindung an ausgreifende Interpretationsmuster wie etwa an die These des deutschen Sonderwegs beraubt, erscheint der Ausbruch des Krieges eher schwerer zu erklären denn je. Zu dieser erneuten Bereitschaft, die Julikrise als Entscheidungshandeln zu deuten, passt Meyer-Arndts chronologisch geordnetes Narrativ gut. In der Konzentration auf den Part, den einzelne Diplomaten, Politiker oder Militärs spielten, gewinnt Meyer-Arndt einer wohl bekannten Geschichte durchaus interessante Aspekte ab. So lenkt er den Blick neben Wilhelm II. und Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg auch auf Staatssekretär Gottlieb von Jagow. Ihm misst er ebenso eine besonders verhängnisvolle Rolle im gescheiterten Krisenmanagement zu wie zwei Repräsentanten des Deutschen Reiches in Wien. Der Legationsrat Dietrich von Bethmann Hollweg und vor allem der Botschafter des Deutschen Reiches in der Habsburgermonarchie Heinrich Leonhard von Tschirschky und Bögendorff werden von Meyer-Arndt als wichtige Mitgestalter in der Eskalationspolitik der Zweibundmächte herausgestellt. Das ist ebenso plausibel wie Meyer-Arndts grundsätzliche Einschätzung, dass von einer kriegstreiberischen Politik der Reichsleitung nicht die Rede sein kann. Österreich-Ungarn bedurfte weder deutschen Drucks, um den Krieg gegen Serbien zu suchen, noch wollte sich die Wiener Führung nur wegen der Gefahr eines europäischen Großmachtkrieges von dem ersehnten Feldzug gegen das verhasste Nachbarkönigreich im Südosten abbringen lassen. Sein Fazit lautet daher: ,,Die deutschen Entscheidungsträger haben den Krieg nicht gewollt. (Dass für zwei Diplomaten der Botschaft in Wien etwas anders gilt, ändert daran im Ergebnis nichts.)" (S. 305)
Dennoch ist Meyer-Arndts Urteil über die Politik der Berliner Führung hart. Er sieht ein eklatantes Versagen im Krisenmanagement. Das ist keine neue oder überraschende Einsicht. Unter den Beweisstücken, die er anführt, um sein Urteil zu untermauern, findet sich die schlechte Koordination der deutschen Antwort auf die Hoyos-Mission ebenso wie die späte und nicht entschlossen genug vorgetragene Anregung an die Wiener Politiker, einer diplomatischen Lösung des Konflikts nicht völlig den Boden zu entziehen. Als unter den gegebenen Umständen noch aussichtsreichste Alternative zum Eskalationskurs in der Spätphase der Julikrise erscheint Meyer-Arndt der von Kaiser Wilhelm II. ins Spiel gebrachte Vorschlag eines ,,Halts in Belgrad". Das Problem mit diesem Vorschlag, der nach Meyer-Arndts Ansicht so gut geeignet gewesen wäre, sowohl dem Prestige Österreich-Ungarns zu nützen, wie auch Russland einen Gesichtsverlust zu ersparen, ist allerdings, dass die Vorstellung Wilhelms II. in jeder Hinsicht unrealistisch war. Wie John Röhl im gerade erschienenen dritten Band seiner monumentalen Biografie des deutschen Kaisers feststellt, war dieser Vorschlag illusorisch. (2) Es bestand keine Aussicht darauf, dass Russland einen Einmarsch der k. u. k. Armee in Belgrad hingenommen hätte. Und vor allem: Die Streitkräfte der Habsburgermonarchie waren überhaupt nicht in der Lage, eine militärische Besetzung der Hauptstadt Serbiens durchzuführen. An dieser Stelle zeigen sich Grenzen der von Meyer-Arndt vorgelegten Analyse. Die militärischen Rahmenbedingungen oder die Entwicklungen in anderen europäischen Großmächten erscheinen nur am äußersten Rand des Blickfelds in undeutlichen und manchmal auch verzerrten Konturen.
Die Beschränkung auf den ereignisgeschichtlichen Aspekt der Julikrise erlaubt es dem Verfasser nicht, die Voraussetzungen des Entscheidungshandelns mit ausreichender Intensität zu diskutieren. Die knappe Einführung und die abschließenden Überlegungen am Ende des Bandes lassen leider keinen Platz dafür. Wie die strategische Lage Deutschlands und seiner Verbündeten bei Ausbruch der Krise interpretiert wurde, welche Bedeutung wirtschaftspolitische Fragen und die Einschätzung der innenpolitischen Entwicklungen als Voraussetzungen für außenpolitische Optionen besaßen, kann von Meyer-Arndt daher in seiner Studie nicht ausreichend geklärt werden. Das bedeutet nicht, dass seine Betrachtung zur deutschen Außenpolitik in der Julikrise keinen Erkenntnisgewinn bereithalten kann. In der Konzentration auf das diplomatische Hin und Her sowie auf die Überlegungen führender Politiker und Diplomaten Deutschlands, versucht er möglichst genau den Entscheidungsprozess zu rekonstruieren. Das gelingt ihm in weiten Teilen recht gut, auch wenn er selbst gelegentlich einräumen muss, dass die Intentionen und manchmal auch die Urheber diplomatischer Schritte nicht eindeutig zu klären sind. Das liest sich in einigen Passagen ein wenig spekulativ, aber weil der Verfasser die Grenzen des von ihm Erklärbaren immer wieder einräumt, ist das von Meyer-Arndt gewählte Verfahren letztlich transparent und ehrlich.
Eine Gesamtdeutung des Kriegsausbruchs oder auch nur der deutschen Rolle dabei sollte jedoch nicht bei der Rekonstruktion des diplomatischen Geschehens stehen bleiben. Die zweckrationale Angemessenheit der Entscheidungen, die in Berlin im Sommer 1914 gefällt wurden, kann jedoch auf diesem Weg nicht ausreichend geklärt werden. Das ist aber wohl auch nicht wirklich der Anspruch, den Meyer-Arndt mit seinem Buch erhebt und daher auch kein Grund zur Kritik. Wirklich bedauerlich erscheint es hingegen, dass er dort, wo er der Rolle von bislang wenig beachteten Akteuren Aufmerksamkeit schenkt, letzten Endes nicht über den Stand der immer noch maßgeblichen Darstellung von Luigi Albertini hinauskommt. (3) Tschirschky und Dietrich von Bethmann Hollweg etwa wären gewiss einer genaueren Untersuchung wert. Aber vielleicht wird sich Meyer-Arndt in einer weiteren Publikation dieser Aspekte noch annehmen. Sein jetzt vorliegender Band ist jedenfalls eine in weiten Teilen flüssig zu lesende oft anregende ereignisgeschichtliche Einführung in die deutsche Außenpolitik während der Julikrise.
Günther Kronenbitter, Atlanta
Fußnoten:
1 Holger Afflerbach, Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Wien/Köln etc. 2002; Friedrich Kießling, Gegen den ,,großen Krieg"? Entspannung in den internationalen Beziehungen 1911-1914, München 2002.
2 John C.G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund. 1914 - 1941, München 2008, S. 1121.
3 Luigi Albertini, The Origins of the War of 1914, 3 Bde., Oxford 1953.