Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Marco Müller, Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Rastatt 1815-1890 (Stadtgeschichtliche Reihe, Bd. 8), Verlag Regionalkultur, Heidelberg/Ubstadt-Weiher/Basel 2005, 494 S., kart., 19,90 €.
Von einer guten Stadtgeschichte möchte der Leser gerne erfahren, wie die allgemeine Geschichte in der jeweiligen Stadt stattgefunden hat. Noch mehr interessiert ihn wahrscheinlich aber gerade das Besondere des ausgewählten Untersuchungsobjekts. Zum einen wird erst im Vergleich der Besonderheiten das Allgemeine schärfer fassbar, zum anderen sollte ja das Charakteristische einer Gemeinde für ihre Bewohner nachvollziehbar werden. Eine Stadt benötigt, wie jedes andere Gemeinwesen, etwas Verbindendes und Gemeinsames, und dazu gehört die Vergangenheit genauso wie die Erwartungen an die Zukunft. Die vorliegende Arbeit von Marco Müller über Rastatt, die unter der Anleitung von Hans Fenske entstanden ist, entspricht diesen Anforderungen nur teilweise.
Der Untersuchungszeitraum 1815 bis 1890 umfasst die Jahrzehnte des fundamentalen Wandels zur kapitalistischen Industriegesellschaft, also einer für uns heute besonders wichtigen Zeit. Die Beschränkung auf die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dieser Zeit ließe sich also wohl begründen. Der Autor hat dies zum Glück nicht getan, sondern auch die kommunale Verwaltung und das gesellschaftliche und kulturelle Leben einbezogen. Das ist ein Vorteil, denn die wirtschaftliche Umwälzung war gerade in Baden begleitet von der Durchsetzung der demokratischen Bürgergesellschaft. Die parallele Entwicklung des Liberalismus in Wirtschaft und Gesellschaft war wie heute noch nicht überall selbstverständlich.
Marco Müller breitet sein reiches Material aus, so dass nahezu alle Themen zumindest angerissen werden. Wir finden Hinweise zu dem erstaunlich stark im Gemeinderat vertretenen Handel und zum Handwerk, zu dem umfangreichen Bildungswesen und den kulturellen Vereinen. Ausführlich wird das Armenwesen behandelt, wobei sich eine fehlende Quellenkritik bemerkbar macht: Dass der Gassenbettel wirklich einer besseren Armenversorgung geschadet haben soll, wie der Gemeinderat behauptete, sollte doch hinterfragt werden. Ähnlich verhält es sich bei der Frage nach dem Zusammenhang von Frühindustrialisierung und Pauperismus. Natürlich hat diese die Massenarmut nicht allein verursacht, aber sie hat das Armutsproblem doch dramatisch verschärft.
Nun fallen dem historisch Interessierten in der Regel beim Stichwort Rastatt die Residenz, der Kongress, die Festung und die badische Revolution von 1849 ein. Gerade zum letzteren Thema, das Rastatt und sein dazugehöriges Museum zu einem wichtigen Lernort gemacht haben, hätte man gerne mehr erfahren. Es wird auch immer wieder wie selbstverständlich darauf hingewiesen, dass die Bundesfestung die Entwicklung Rastatts beeinträchtigt habe. Wie dies genau geschehen ist, und ob Rastatt aus ihr vielleicht auch Vorteile gezogen hat, wird nicht detailliert ausgeführt. Ein Vergleich mit den anderen Bundesfestungen hätte hier nicht geschadet. Andere Städte mit einer verspäteten Industrialisierung verdanken dieser Tatsache ein besser erhaltenes Stadtbild. Die andere soziale Zusammensetzung der Einwohnerschaft hat vermutlich auch Folgen im gesellschaftlichen Leben gehabt. Diesen Fragen wird zu wenig nachgegangen.
So bleibt die Arbeit eine verdienstvolle Materialsammlung zu sehr vielen Themen, die teilweise sehr detailliert und anschaulich behandelt werden. Für den interessierten Laien wird allerdings zu wenig erläutert, wie dieses Material einzuordnen ist und was die Zahlen zu bedeuten haben, für den Fachmann fehlt der Bezug zur Forschung. Der unfangreiche Anhang zu dem man sich noch ein Sachregister gewünscht hätte, macht es zu einem geeigneten Nachschlagewerk für diese wichtige Umbruchzeit.
Hans-Otto Binder, Tübingen