ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Friedrich Lenger/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung, Entwicklung, Erosion (Industrielle Welt, Bd. 67), Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2006, 522 S., geb., 44,90 €.

Europäische Stadtgeschichte zu schreiben ist ein überfälliges Projekt. Erste Arbeiten liegen dazu inzwischen vor. (1) Der Sammelband von Friedrich Lenger und Klaus Tenfelde erschließt dieses Kernstück einer transnationalen Geschichtsschreibung umfassend. Die beiden Herausgeber haben durchweg prominente, überwiegend deutsche Autoren der neueren Sozialgeschichte versammelt, um aus deren Blickwinkel vier Kernthemen der neueren Stadtgeschichte in vergleichender Perspektive an Fallstudien vorzustellen: Eher zum traditionellen Spektrum gehören hierbei Beiträge (1.) zu den Stadtentwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert und (3.) zur langen Nachkriegszeit. Eher dem cultural turn geschuldet ist die Frage nach (2.) den Wahrnehmungen in Städten und eher von den Sozialwissenschaften inspiriert jene (4.) nach der Erosion der großen Stadt. Von einer interdisziplinären Beeinflussung der Theorie-Debatten der Stadthistoriker zeugt der abschließende Beitrag des Stadtsoziologen Hartmut Häußermann über die ,,soziale Stadt", ein Themenfeld, das lange Zeit gänzlich aus dem Blickfeld der Stadtforscher zu verschwinden gedroht hatte. (2)

Obgleich in der neueren stadtsoziologischen Debatte pointiert gefragt wird, warum die Soziologie sich ausschließlich mit der Gesellschaft in der Stadt beschäftigt hat, aber niemals mit der Stadt als einer lokalen Gesellschaft (3), kann man diesen Vorwurf der Kollektivierung von Stadtbezügen zugunsten einer imaginären Makroebene, die i.d.R. von der Gesellschaftsanalyse, meistens auf nationalstaatlichem Niveau, vorgegeben wird, nicht ohne weiteres an die Geschichte weiterreichen. Diese hat sich immer schon mit der je spezifischen städtischen Konstellation beschäftigt, allerdings hat sie dabei ebenfalls schon immer die Vergleichsperspektive ausgeblendet und niemals eine Antwort auf die drängende Frage nach der typologischen Vergleichbarkeit städtischer Polis liefern können. Große Theorieentwürfe sind seit Max Weber und Georg Simmel ohnehin nicht erfolgt, so dass man sich vorzugsweise mit dem behilft, was man immer schon getan hat, dem Paar-Vergleich von Stadtkonstellationen, von denen man annimmt, dass die Ähnlichkeiten in einem synthetisch gewählten, thematisch und chronologisch eng begrenzten empirischen Ausschnitt schon irgendwie genug Relevanz für einen typologischen Vergleichsrahmen schaffen werden. Evidenz erscheint dann vielfach allein in der Darstellung der Resultate auf, aber nicht in einem weiter gesteckten theoretischen Rahmen. Das ist handwerklich korrekt, aber noch immer nicht der ganz große Entwurf einer neueren Stadtgeschichte, zumal im europäischen Vergleichsmaßstab. Diese ist, und das zeigen auch die Auswahlbeispiele der Autoren, durchweg eine Betrachtungsweise der Großstadt und der international stark vernetzten Metropole.

Hartmut Kaelble hat den Beiträgen immerhin eine additive Systematik von typologischen Ähnlichkeiten vorangestellt, aus denen ,,die Besonderheiten der europäischen Stadt" sich konstituieren lassen: Dazu zählt er das Aussehen, die begrenzte Wachstumsaussicht, die scharfe Stadt-Land-Abgrenzung, die ausdifferenzierte Quartiers-Segregation, die hohe Bedeutung der Zentrumsnutzung, den nachhaltigen Einfluss der Stadtverwaltung und ideologische Stadtvisionen. Das ist ein schönes, an den Vergleichsperspektiven der gegenwärtigen Globalisierung von Stadtwelten orientiertes Angebot einer vereinzelnden europäischen Nationalgeschichte von Stadt, das allerdings von den Autoren noch nicht durchgängig genutzt wird. Wolfgang Höpken immerhin knüpft an das Modell von Zentrum und Peripherie an, dem Rudolf Stichweh einen weiteren konzeptionellen Aufsatz aus der Perspektive der Stadtsoziologie widmet, indem er die Hauptstadtbildung auf den neuen Balkanstaaten im Verlauf der Moderne als ein Projekt nachholender Stadtrepräsentation interpretiert. Der Prozess war eindeutig an mitteleuropäischen Vorbildern orientiert, wobei Wien, wie man bereits aus dem autobiografischen Werk von Elias Canetti (4) weiß, die zentrale Schrittmacherposition für den südosteuropäischen Raum eingenommen hatte. Das Jahrzehnt von 1890 bis 1900 kann als Kulminationsphase dieser rasanten Entdeckung der europäischen Stadt in dem ehemals vom Osmanischen Reich dominierten, multinationalen Begegnungsraum markiert werden: In diesen wenigen Jahren entstanden Opernhäuser, Boulevards und Straßenbahnen und mit ihnen die mitteleuropäische Kaffeehauskultur in Belgrad, Sofia und Bukarest, eine verbürgerlichte europäische Welt im schnellen Nachholen jahrhundertealter Traditionen der Stadt-Begegnungen. Noch in der Zwischenkriegszeit prägte eine hochspezialisierte Residenzkultur diese Hauptstädte, in denen distinguierte Beamte, Wirtschaftsbürger und Offiziere den Ton angaben, der öffentlichen Präsenz von Frauen Raum gaben und mit ihr auch einer urbanen Wohnkultur.

Dirk Schubert wählt eine ähnliche Perspektive der nachholenden Modernisierung rapider Stadtplanung, wenn er die Aufbauplanungen in London und Hamburg in den 1940er und 1950er Jahren analysiert. Beide Städte hatten horrible Menschenverluste infolge des Bombenkriegs zu tragen, London etwa 30.000 Ziviltote und noch einmal 50.000 Schwerverletzte, während in Hamburg die Zahl der Toten alleine der Juli-Bombardements von 1943 50.000 betrug. Dementsprechend stark und total devastiert waren beider östliche Stadtquartiere, die jeweils auch die Wohnorte der Arbeiterschaft gewesen waren. Im East End war ein Drittel des Wohnungsbestandes zerstört worden und den Hamburger Osten gab es über mehr als zehn Kilometer Luftlinie nicht mehr. Schubert gibt einen realistischen Eindruck der chaotischen Kriegssituation in der westlichen Metropole, die hierzulande noch immer unbekannt ist. Er zeigt die enormen Anstrengungen einer reformerischen Stadtplanung zugunsten des Neubaus von überschaubaren Nachbarschaftseinheiten auf, welche allerdings nur fragmentarisch umgesetzt werden konnten, obwohl sie eng mit einem revolutionären Wohlfahrtsstaatsimpuls verquickt waren. Hamburgs Aufbau-Projekte in den westlichen Quartieren Harvestehude und mehr noch jene in Neu-Altona atmen den ähnlichen Geist der Auflockerung und der überschaubaren Nachbarschaftseinheit. Allerdings blieben die quartierräumlichen sozialen Strukturen in London weitaus stärker veränderungsresistent, auch aufgrund der Bewohnermitsprache an der Stadtplanung.

Bleibt der konzeptionelle Ertrag einer transnationalen Betrachtungsweise von rapidem städtebaulichem Wandel damit noch in den Anfängen, entfaltet Lars Nilsson mit einem Vergleich dem industriellen [A] Wandel von Stockholm und Helsinki seit den 1980er Jahren ,,main trends in modern Nordic urbanisation". Beide Hauptstädte folgten den üblichen Trends der Stadtentwicklung, ehe sie einen enormen Aufschwung durch die (Re-)Gentrifizierung bestimmter Stadtteile durch junge IT-Manager/innen erlebten. Diese stellten hohe Anforderungen an ihren Lebensstil und veränderten damit auch die innerstädtische Infrastruktur. War Stockholm seit den 1950er Jahren durch eine brutale Kahlschlagsanierungswelle der gesamten Innenstadt heimgesucht worden, erholte sich die Metropole damit erst spät von diesen früheren Abwegen einer ungehemmten Hochindustrialisierung. Die Reorientierung auf den Hafen, auf die Inseln, auf die Architektur und das Finanzwesen können als Stützen einer gemeinsamen ,,Nordischen" Stadtentwicklung identifiziert werden.

Es sind diese starken typologischen Gemeinsamkeiten, welche auch in den übrigen Beiträgen die Vergleichsperspektive tragen, so etwa den Vergleich der Metropolenplanung von London und Randstad (Dieter Schott), den Vergleich von Industrieregionen in der DDR und Polens (Christoph Bernhardt), den Vergleich der Stadtentwicklung von Oslo und Stockholm im 20. Jahrhundert (erneut Lars Nilsson), den Vergleich der wirtschaftlichen Basis von Hauptstädten, Madrid und Rom (Christof Dipper), und denjenigen der Masseneinwanderung nach Barcelona und Turin zwischen 1950 und 1975 (Martin Baumeister). Konzeptionelle Fragestellungen richten sich auf die ,,Merkmale faschistischer Urbanisierungspolitik in Italien" (Wolfgang Schieder), auf die Frage nach der ,,Entwicklung des Stadt-Land-Gegensatzes im 20. Jahrhundert" (Klaus Tenfelde) und darauf, ob man ,,Urbanisierung als Suburbanisierung" beschreiben kann, wie das Friedrich Lenger für die USA tut.

Insgesamt entfalten die Autoren damit ein breit gestreutes Panorama der gegenwärtig in der neueren Stadtgeschichte vorhandenen sozialgeschichtlichen Fragestellungen (dazu auch Paul Nolte in einem separaten Überblick) in Hinblick auf die Stadtplanungsgeschichte. Der Band ist damit in vielerlei Hinsicht anschlussfähig: empirisch in Richtung auf vergleichende Stadtstudien, die insbesondere quartierräumliche Veränderungen erstmals auch in der europäischen Vergleichsperspektive analysieren können, kulturgeschichtlich in Richtung auf die Analyse von Leitideen und Stadtwahrnehmungen, welche eine immer größere Rolle, auch vor dem Hintergrund des spatial turn, eingenommen haben, und konzeptionell in Richtung auf eine Neubestimmung dessen, was Max Weber als das Besondere der europäischen Stadt vermutet hat. Diese Besonderheiten, das zeigen die insgesamt zwanzig Beiträge, sind empirisch greifbar, aber typologisch noch immer weitaus stärker auszudifferenzieren, als uns das heute auf der Grundlage einer noch immer sehr begrenzten Vergleichsgeschichte gelingen kann. Der Sammelband von Lenger und Tenfelde kann als eine Hinführung zu diesem neuen Forschungsdesign verstanden werden. In seiner empirischen Breite und klug komponierten konzeptionellen Dichte empfiehlt er sich als eine hervorragende Einführung in die europäische Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Georg Wagner-Kyora, Hannover

Fußnoten:


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