ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jürgen Zieher, Im Schatten von Antisemitismus und Wiedergutmachung. Kommunen und jüdische Gemeinden in Dortmund, Düsseldorf und Köln 1945-1960 (Dokumente - Texte - Materialien, Bd. 55), Metropol Verlag, Berlin 2005, 272 S., kart., 19,00 €.

,,Die Geschichte des deutschen Judentums ist definitiv zu Ende. Die Uhr kann nicht zurückgestellt werden." Rabbiner Dr. Leo Baeck konnte sich im Dezember 1945 nicht vorstellen, dass es eine Rückkehr in das Land von millionenfachem Mord geben könnte. Dennoch sammelten sich in den ersten Nachkriegsmonaten in vielen deutschen Städten überlebende Juden an den Orten zerstörter Synagogen und Gemeindezentren. Sie waren auf der meist vergeblichen Suche nach Familienangehörigen und einst vertrauten Orten. Ihre Entscheidung, provisorische Gemeindestrukturen zu errichten, galt dem Ziel, existentielle Hilfen für die Überlebenden fordern und bereitstellen zu können. Dass aus diesen Provisorien dauerhafte neue Gemeinden entstehen könnten, daran glaubten in den ersten Jahren nach der Befreiung nur wenige der Zurückgekehrten.

Den langsamen und immer wieder von Rückschlägen begleiteten Wiederaufbau jüdischer Gemeinden nach 1945 hat der Historiker und Politikwissenschaftler Jürgen Zieher am Beispiel der drei mitgliederstärksten Kultusgemeinden zwischen Rhein und Ruhr untersucht. In seinem aus einer Dissertation hervorgegangenen Buch wird der Neuaufbau der jüdischen Gemeinden Düsseldorf, Köln und Dortmund sorgfältig nachgezeichnet. Dabei richtet sich der Fokus insbesondere auf das Gefüge der Beziehungen zwischen den jeweiligen Kommunen und jüdischen Gemeinden, das in einem von Zieher als ,,formative Phase" gefassten Zeitraum von 1945 bis 1949 auch von der britischen Besatzungsmacht und den Anfängen nordrhein-westfälischer Landespolitik beeinflusst wurde. Zunehmend delegierte man Aufgaben, die zunächst internationale jüdische Hilfsorganisationen wie der ,,Joint" oder die britische ,,Jewish Relief Unit" übernommen hatten, an die Gemeinden und ihre neu gegründeten Landesverbände Nordrhein und Westfalen. Die Gründung eines Zentralrats der Juden in Deutschland im Sommer 1950 als Repräsentanz und politische Außenvertretung symbolisiert den Abschluss einer Nachkriegszeit der vollkommenen Unsicherheit. In der anschließenden ,,Phase der Etablierung" von 1949 bis zum Ende der 1950er Jahre nimmt Zieher auch bundespolitische Weichenstellungen in den Blick. Hierzu gehört vor allem die Gesetzgebung zu Restitution und Entschädigung. Die Studie fragt dabei nach Entwicklungslinien bundesdeutscher Politik gegenüber Holocaust-Überlebenden, aber auch nach dem Umgang mit den Tätern. Amnestiegesetze und Rückkehrhilfen für in den Entnazifizierungsverfahren zum Teil schwer belastete Juristen, Ärzte oder frühere Verwaltungsbeamte erschütterten regelmäßig die Hoffnungen der jüdischen Gemeinden, auf neue Sicherheiten vertrauen zu können. Das letzte Kapitel, ,,Wiedergutmachung zwischen Anspruch und Wirklichkeit" überschrieben, endet chronologisch mit der antisemitischen Welle im Winter 1959/60, in deren Folge die Ambivalenzen jüdischer Rückkehr in das Land der Mörder noch einmal überaus deutlich wurden.

Jürgen Zieher hat insbesondere Akten der Kultusgemeinden von Köln, Düsseldorf und Dortmund und der beiden jüdischen Landesverbände in Nordrhein-Westfalen, zudem Verwaltungsakten in den drei Stadtarchiven sowie Ministerialakten im nordrhein-westfälischen Hauptstaatsarchiv ausgewertet. Anders als Jael Geis, die 1999 eine wegweisende erfahrungsgeschichtliche Untersuchung zum ,,jüdischen Blick" auf Politik und Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland vorgelegt hatte (1), geht es Jürgen Zieher in erster Linie um eine ,,Politikgeschichte der Interaktion zwischen formierten Institutionen" (S. 22). Durch die vergleichende lokal- und regionalgeschichtliche Perspektive bleibt seine Darstellung aber nicht auf Strukturen und politische Auseinandersetzungen beschränkt, sondern kann die Aufmerksamkeit auf konkrete Situationen und Entscheidungen richten. Wir erfahren, wer die Errichtung provisorischer Betsäle und später den Bau neuer Synagogen voranbrachte, welche Widerstände es gegen die ersten Gedenktafeln gab, wie die Politik vor Ort auf antisemitische Vorfälle wie Friedhofsschändungen und Übergriffe reagierte.

Jürgen Ziehers Arbeit ist in eine Reihe von lokal- und regionalgeschichtlichen Untersuchungen einzuordnen, die seit Ende der 1970er Jahre, allerdings meist in Aufsatzform, den Wiederaufbau einzelner jüdischer Gemeinden nach 1945 zum Inhalt hatten. Regionalgeschichtlich ist hier vor allem die 2003 publizierte Dissertation von Donate Strathmann zur Düsseldorfer Synagogengemeinde zu nennen, die stärker auch Alltag und religiöse Praxis in einer neu entstehenden Einheitsgemeinde untersucht. (2) Wichtig ist daneben der auf umfangreichem Quellenmaterial und lebensgeschichtlichen Interviews beruhende Aufsatz von Monika Grübel zur Kölner Synagogengemeinde. (3) Durch den Vergleich von drei zum Teil sehr unterschiedlichen Kommunen und Gemeinden geht Zieher aber einen wichtigen weiteren Schritt hin zu einer Gesamtdarstellung jüdischer Gemeinden in Deutschland nach 1945, die noch aussteht.

Cordula Lissner, Leverkusen

Fußnoten:


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