Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Matthias Schwerendt, Rassenhygiene als
Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch (Edition Bildung und Wissenschaft, Bd. 10), Akademie-Verlag, Berlin 2006, 546 S., geb., 69,80 €.
Das vorliegende Handbuch ist ein imposantes Werk - nicht nur im Hinblick auf den Umfang (ca. 550 Seiten), sondern auch im Hinblick auf die enorme Rechercheleistung. Es wird seinem Untertitel, ein Bio-bibliografisches Handbuch zu sein, mehr als gerecht und ist für den Einstieg in die Thematik und der Kontextualisierung einzelner pädagogischer ausgerichteter Autoren in der Zeit des Nationalsozialismus sicherlich das derzeit bedeutendste Werk. In dem dreigegliederten Buch werden in einem allgemeinen ersten Teil erziehungswissenschaftliche Aspekte der Rassenhygiene und -politik, die dazugehörigen Publikationen, der ,,rassenwissenschaftliche Diskurs" sowie allgemeine biografische Daten geliefert.
Zunächst fällt auf, dass die Studie den zeitlichen Beginn schwerpunktmäßig auf das Jahr 1933 fokussiert. Der steile Aufstieg des Rasse-Konzeptes seit der Jahrhundertwende, seine bereits tiefe Verankerung in der Weimarer Republik sowie die enge Verbindung zu (kolonial-)politischen Theorien und Praktiken wird nur kursorisch bzw. gar nicht behandelt. Hingegen wird dann 1933 als ein "Einbruch eines naturwissenschaftlichen Paradigmas unter völkischen Vorzeichen in der Pädagogik", ,,praktisch von einem Tag auf den anderen" bezeichnet. Eine stärke Kontextualisierung hätte sicherlich mehr Antworten darauf geliefert, ob die Pädagogik tatsächlich nur ein passiver Empfänger oder eher ein aktiver Gestalter des Diskurses war - wenn man dieses Polarisierung übernehmen mag - bzw. sie hätte deutlich gemacht, wo genau die Schnittstellen zwischen diesem naturwissenschaftlichen Paradigma und der pädagogischen Disziplin lagen. Darüber hinaus ist die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Rasse-/Rassenhygienischen-Ansätzen ein immer noch inhaltlich umkämpftes Feld. Begrifflichkeiten wie ,,Einbruch" vermögen diese Fragen nicht wirklich zu beantworten. Der Umgang mit Begriffen fällt auch an anderer Stelle auf, wenn z.B. von der ,,Entmischung der Rassen" gesprochen wird - dieser Ausdruck aber nicht als zeitgenössischer Begriff durch Anführungszeichen kenntlich gemacht wird.
Die Studie stellt deutlich die spezifische Rolle der Schulen, insbesondere der Lehrer in ihrer Doppelfunktion heraus: in der Vermittlung rassenhygienischer und -politischer Ideologie und zugleich als perfekte ,,Einstiegsorte für die erbbiologische Erfassung". Allerdings hatte nicht bereits, wie im Band erwähnt, Eugen Fischer die Bedeutung der Volksschullehrer für die Erstellung von Bevölkerungsuntersuchungen erkannt. Schon Rudolf Virchow griff in den 1870er-Jahren für seine Schulstatistik auf das Klientel der Lehrer zurück.
Dass es sich bei den identifizierten Texten vor allem um Schulbücher aus den Fächern der Biologie- sowie dem Geschichts- und Erdkundeunterricht handelt, mag nicht überraschen, ist aber dennoch wichtig. Entspricht dieser Befund doch sehr genau der nationalsozialistischen Bildungspolitik: Im Erlass vom 15. Januar 1935 wurden explizit diese drei Fächer als Multiplikatoren der Rassenkunde und Vererbungslehre benannt.
Interessant ist auch der Befund zum sozialgeschichtlichen Hintergrund der Autoren, die ,,im wesentlichen aus den protestantisch geprägten Mittelschichten [kamen, A.L.], besonders ausgeprägt ist dabei die Herkunft aus dem Bildungs- und Beamtenbürgertum". Analog dem Modell von Ulrich Herbert, der den Ersten Weltkrieg als zentrales Erlebnis für die politische Sozialisation markiert und dementsprechend in eine ,,junge Frontgeneration", der ,,Kriegsjugendgeneration" und der ,,Nachkriegsgeneration" unterscheidet, finden sich bei den hier untersuchten Autoren alle genannten Generationen annähernd gleich vertreten wieder.
Im zweiten Abschnitt, dem ,,biographischen Teil" werden aus einer disziplingeschichtlichen Orientierung heraus die relevanten Autoren in je nach Quellenlage ein bis vier Seiten in ihrem beruflichen Werdegang und ihrer politischen Haltung hin vorgestellt. Dabei wird auf umfangreiches Quellenmaterial sowie Sekundärliteratur zurückgriffen. Bei der Darstellung wird in drei Gruppen unterschieden:
1. ,,professionelle Pädagogen" (worunter Lehrer, Professoren, Dozenten der Lehrerbildung, Repräsentaten der universitären Pädagogik gefasst werden) - diese nehmen den größten Teil der untersuchten Verfasser ein.
2. Autoren aus anderen Disziplin, die aber für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs zentral waren (wie die bekannten ,Rasse'-Autoren Hans F.K. Günther sowie Ludwig F. Clauss)
3. rassenpolitische Aktivisten, die u.a. im Rassenpolitischen Amt oder als Volkstumsexperten des Rasse- und Siedlungshauptamtes und des Reichssicherheitsdienstes, als Polizeilehrer, als Schulungsexperten des Rasse- und Siedlungshauptamtes und des SS-Hauptamtes, als Experten im Eignungsprüferwesen des Rasse- und Siedlungshauptamtes tätig waren.
Konkret heißt dies, dass hier detaillierte biografische Angaben zu den jeweiligen Personen dargelegt werden und auf ihr jeweiliges Netzwerk verwiesen wird: wessen Schüler sie waren, mit wem sie in einem engen, konkurrierenden oder verfeindeten Verhältnis standen. Aufgrund dieser umfangreichen Recherchearbeit werden zunächst einmal die einzelnen Träger des wissenschaftlichen Diskurses systematisch dargestellt. Zugleich wird damit das enge Beziehungsgeflecht innerhalb des pädagogischen Bereichs deutlich. Darüber hinaus offenbaren sich hier auch Kooperationen zu anderen Disziplinen und Akteuren, wie beispielsweise zu den Anthropologen Otto Reche und Walter Scheidt.
Bemerkenswert ist zudem, dass insgesamt ein hoher Grad an politischem Engagement bei den Autoren zu konstatieren ist: Die meisten übernahmen politische Ämter oder lassen sich als rassenpolitische Aktivisten charakterisieren. Zudem hatten die Autoren mehrheitlich bereits vor 1933 eine völkisch-nationalsozialistische Orientierung herausgebildet.
Im letzten Abschnitt der Studie befindet sich dann eine umfangreiche Bibliografie pädagogischer und pädagogisch relevanter Schriften zur Rassenhygiene und Rassenkunde im Nationalsozialismus. Ziel war es hier, aus der Perspektive der Disziplin der Pädagogik einen Beitrag zur Rekonstruktion der Rassenhygiene und -politik des Nationalsozialismus zu liefern. Dazu wird über die bibliografischen Angaben hinaus auch ein Kurzbiografie der jeweiligen Akteure vorgelegt. Ein wenig verwundern vermag allerdings auch hier der Umgang mit Begriffen: die simple Übernahme der von den Nationalsozialisten eingeführten Kategorie ,,gottgläubig" zur Beschreibung eines religiösen Bekenntnisses, das auf keine explizite Religionsgemeinschaft gerichtet war.
Einen systematisch-inhaltsanalytischen Ansatz, der die einzelnen Texte auf ihren Beitrag zum rassenhygienischen Diskurs hin untersucht, verfolgt dieser Band explizit nicht. Bei 2.052 identifizierten Texten, darunter 760 Buchpublikationen und 1.260 Aufsätze und Zeitschriftenartikel sowie Bildreihen und Karten, erscheint ein solches Vorhaben schon aus arbeitspraktischen Gründen auch seine Grenzen zu finden. Die Autoren erklären hingegen diese Aussparung mit den Redundanzen und Phrasen in den Texten, so dass ,,eine inhaltliche Diskussion [...] deshalb wenig wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen Gewinn [verspricht]. Insgesamt fanden während des Dritten Reiches wenig konzeptuelle Weiterentwicklungen statt - es war in erster Linie eine Zeit der Umsetzung und Ausarbeitung dessen, was vorher schon gedacht worden war, wissenschaftlich, politisch und pädagogisch gesehen. Der pädagogische Diskurs hat sich im wesentlichen an die vorherrschenden Paradigmen angeschlossen, die bereits Gegenstand umfangreicher wissenschaftsgeschichtlicher Darstellungen gewesen sind." (S. 86) Hier mag man ein Fragezeichen setzen und hoffen, dass diese voreilig wirkende Annahme durch Detailstudien spezifiziert wird.
Für weiterführende Studien ist das vorliegende bio-bibliografische Handbuch nicht nur ein zentrales Werk, das den Einstieg in die Thematik wesentlich erleichtert, sondern auch ein übersichtlich gestaltetes Werk, das einen guten Einblick gibt in ein komplexes Beziehungsgeflecht der Autoren, die den rassenhygienischen Diskurs zur einer Erziehungsideologie des Nationalsozialismus werden ließen.
Anja Laukötter, Berlin