ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Es gibt Bücher, die sind so wichtig und unverzichtbar in der alltäglichen wissenschaftlichen Arbeit, dass über sie eigentlich niemand spricht. Der Duden gehört etwa dazu, viele allgemeine wie spezielle Nachschlagwerke und natürlich Wörterbücher unterschiedlichster Inhalte. Solche Bücher des alltäglichen Bedarfs sind auch deshalb so unverzichtbar, weil sie als zuverlässig, weitgehend ideologiefrei, ausgewogen und umfassend gelten. Jeder Autor, der ein Lexikon konzipiert und plant, sollte diese Ansprüche geltend machen, sonst wird sein Werk nicht einmal vom Ansatz her bestehen können.

Lothar Mertens, der kurz nach Erscheinen des Buches jung verstorben ist, hat an diesem Lexikon nach eigener Auskunft viele Jahre gearbeitet. Das glaubt man ihm gern, bedeutet die Zusammenstellung von 1.100 Kurzbiografien von Historikern und Historikerinnen der DDR doch zuvorderst erhebliche Kärrnerarbeit. Seinem Lexikon hat er eine umfangreiche Einleitung vorangestellt auch als Separatdruck publiziert hat. Darin zeichnet er die Funktionsbedingungen der DDR-Geschichtswissenschaft erneut nach und versucht, eine Art Kollektivbiografie der DDR-Historiker zu entwerfen. Dabei kann er zwar durchaus die Dynamik einer 40-jährigen Entwicklung erfassen, gleichwohl bleibt die Darstellung schematisch und lässt für Grautöne kaum Platz. Die biografischen Entwicklungen nach 1989 werden zudem eher einfach gestrickt gedeutet. Hier konstatiert Mertens zum Beispiel leichthin und kaum nachvollziehbar, dass praktisch niemand mehr aus der DDR Einfluss in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft habe und selbst Kritiker wie Stefan Wolle und Rainer Eckert ,,leider eher Randfiguren" seien, ,,die nur partiell Gehör finden" (Mertens, Lexikon, S. 82 bzw. Mertens, Priester oder Klio, S. 147). Das ist eine Sicht, die irritiert. Eckert ist Direktor eines der wichtigsten und meistbesuchten Museums Deutschlands, Wolles zeithistorische Bücher zählen zu den wenigen gut verkauften aus der Feder professioneller Historiker und zugleich zu den meist zitierten in Deutschland. Mertens' Kriterium ist offenbar ein anderes: Beide haben keinen Lehrstuhl. Da will man ausrufen, zum Glück nicht, denn offenbar hemmt ein Lehrstuhl die meisten Neuzeit-Historiker in ihrer Kreativität und Produktivität. Neben bekannten Problemen der Selbstrekrutierung in den Hochschulen ist es nun aber doch zuviel, dass nun auch noch wissenschaftlicher Einfluss und Deutungseinfluss mit wissenschaftspolitischem Einfluss und mit Teilhabe an Inzucht verwechselt werden.

Das alles ist deshalb erwähnenswert, weil das Lexikon nach einem ähnlichen Muster aufgebaut ist. Kriterien für die Aufnahme waren u. a. Professur oder Habilitation oder herausgehobene Funktion, aber keinesfalls wissenschaftliche Leistungen. Das führt zu dem Umstand, dass unter den 1.100 Historikern und Historikerinnen viele sind, die sich wahrscheinlich nicht einmal selbst als Historiker bezeichnen würden, zugleich aber sehr viele fehlen, die mit historiografischen Werken hervortraten, die aus unterschiedlichen - wissenschaftlichen, politischen, ideologischen, zuweilen alle auf einmal - Gründen wichtig und nachhaltig waren, zum Teil auch noch sind. Dazu zählen beispielsweise Werke von Soziologen, die eben keinen historischen Lehrstuhl inne haben oder auch Historiker, die sich als Freischaffende ihren Lebensunterhalt verdienen.

Die Lemmata enthalten neben dem Namen, Lebensdaten und Geburtsort vor allem Angaben zu Ausbildung und Karrierestationen, ergänzt um Mitgliedschaften in Gremien, Parteien und um Parteifunktionen. Außerdem werden die Qualifizierungsschriften ebenso genannt wie selbstständige Schriften und schließlich eventuelle Beiträge in der ,,Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" (ZfG). Um beim Letzten anzufangen: Das ist ziemlich überflüssig, weil seit Jahren die Inhaltsverzeichnisse der ZfG, und zwar vom ersten Jahrgang an, im Internet abrufbar sind (auch wenn dies eigene zusätzliche Recherche bedeutet). (1) Mag man dies noch achselzuckend hinnehmen, fragt man sich allerdings verwundert, warum nur die ZfG erfasst wurde, aber andere 'Flaggschiffe' wie etwa die ,,Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung", einschlägige Jahrbücher, Universitäts- und Hochschulzeitschriften ebenso außen vor blieben wie eine Reihe weiterer Publikationsorgane. So macht dies alles einen reichlich willkürlichen Eindruck, der die innere Verfasstheit der DDR-Geschichtswissenschaft nur unzureichend spiegelt. Auch die bibliografischen Angaben zu selbstständigen Schriften und Qualifizierungsarbeiten sind übrigens im Internetzeitalter überflüssig. Das alles hätte Platz gespart. Hätte sich der Autor zum Beispiel entschlossen, tatsächlich die Historiker biografisch zu erfassen und ihr Werk zu würdigen, d. h. zu charakterisieren und zu beschreiben, so wäre das Buch verdienstvoller geworden. So haben wir es hier mit einer Anhäufung weitgehend gut recherchierbarer Angaben zu tun, die in viel zu vielen Fällen ,,Historiker" erfassen, die gar nicht als Historiker gelten (s.o.).

Hinzu kommt, was vielleicht noch mehr ins Gewicht fällt, dass die Angaben zu den einzelnen Historikern sehr unterschiedlich sind. Zu einigen fand der Autor offenbar so wenig, dass sich schon fragen lässt, ob er nicht hätte lieber auf einen Eintrag verzichten sollen, um so wiederum Platz zu gewinnen, um andere ausführlicher vorzustellen. Besonders irritierend ist auch der Umstand, dass die Parteimitgliedschaften nur lückenhaft und eine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nur sehr zufällig erwähnt werden. Ebenso verhält es sich mit politisch motivierten Verfolgungen, sei es, dass sie der einzelne erlitten oder (mit)betrieben hat.

Insofern hat man es mit einem Werk zu tun, das sicherlich als herausragende Leistung eines Einzelnen gewürdigt werden muss und ganz gewiss seine Verdienste hat. Sicherlich wird künftighin von Forscher gern genutzt werden. Gleichwohl hätte man dem Autor gewünscht, er hätte mehr Sorgfalt aufgebracht, um das Buch insgesamt mehr an den Nutzerinteressen auszurichten. Noch mehr freilich würde man sich wünschen, dem Autor würde es möglich sein, eine zweite Auflage gründlich zu überarbeiten. So bleibt es leider nur ein Torso im Gesamtwerk des ungewöhnlich produktiven, leider verstorbenen Autors.

Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin

Fußnoten:


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 17. Februar 2009