ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Babett Bauer, Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR 1971-1989 (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 30), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 492 S., geb., 56,90 €.

Die Kritik an der oral history, die noch vor 20 Jahren der mündlich erfragten Geschichte blinden Subjektivismus, erkenntnistheoretische Naivität sowie eine ,,Flucht vor der Anstrengung des Begriffs" (Hans-Ulrich Wehler) attestierte, fällt mittlerweile angesichts der Infragestellungen traditioneller Sozial- und Gesellschaftsgeschichten deutlich zurückhaltender aus. Die kulturgeschichtlichen Theoriedebatten sowie die inzwischen durchaus auch skeptischen Auseinandersetzungen mit diskursanalytischen und poststrukturalistischen Forschungsansätzen haben zumindest eines verdeutlicht: Historische Forschung verliert ohne die Einbeziehung individueller und kollektiver Sinndeutungen, ohne die Analyse von Verarbeitungs- und Bedeutungszuschreibungen sowie der diskursiven Konstituierung, Institutionalisierung und Aneignung verhaltensregulierender Wissenssysteme wesentliche Erkenntnismöglichkeiten aus dem Blick. Gleichzeitig hat sich mittlerweile aber auch der wissenschaftliche Umgang mit mündlich erfragten Geschichtsquellen erheblich professionalisiert: Einen naiven Umgang mit Zeitzeugeninterviews und anderen Formen biografischer Selbstthematisierungen kann sich heute kein anspruchsvoller Wissenschaftler mehr leisten. Wer sich nicht mit Samplebildungen auseinandersetzt, weder von Zugzwängen des Erzählens noch von Erfahrungsaufschichtungen weiß, setzt sich zu Recht sachkundiger Kritik aus. Babett Bauer muss solche Einwände nicht fürchten: Ihre Dissertation über individuelle Erfahrungen in der DDR ist eine theoretisch reflektierte, methodisch konsequente und zugleich immer noch genügend pragmatische Studie, die ihren Gegenstand überzeugend im Griff hat.

Nach einer etwa 90 Seiten umfassenden Einführung, in der es um Methode, Handlungstheorie und Diktaturbegriff geht, entwickelt Bauer eine insgesamt fünf Varianten umfassende Typologie, mit der sie ein Spektrum ,,individueller Lebenswirklichkeiten und Entscheidungsprozesse in der Konfrontation mit staatlicher Kontrolle und Repression in der DDR" (S 12) aufzeigt. Dabei steht der Zusammenhang von Alltag und Herrschaft, von Lebenswelt und System im Zentrum, der sich in Konfrontationen mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und deren lebensgeschichtlicher Verarbeitung konkretisiert. Aus der latenten Korrespondenz zwischen biografischer Selbstthematisierung und den aus den jeweiligen MfS-Akten rekonstruierbaren Repressionsmaßnahmen ergibt sich nicht nur eine ausgesprochen lesenswerte Dynamik für die Untersuchung selbst, sie ermöglicht auch, sich der Komplexität solcher erfahrungsgeschichtlichen Gegenstände durch wiederholten Perspektivwechsel besser annähern zu können. Die fünf Typen grenzen sich dabei relativ klar voneinander ab: Sie lassen sich - sehr verkürzt - durch die Stichworte ,,Flucht und Inhaftierung", ,,Resistenz und alternative Lebensformen", ,,Unpolitisches Dasein und erzwungener Kompromiss",,Identifikation und Anpassung" sowie ,,Distanz und Nonkonformismus" charakterisieren. Obgleich der eine oder andere Begriff wohl schärfer zu fassen gewesen wäre (Opposition/Resistenz/Distanz etc.) und auch die Frage nach generationenspezifischen Verhaltensmustern zwar angesprochen, aber nicht systematisch herausgearbeitet wird, gelingt es Bauer dennoch, das Potenzial ihrer 30 narrativen Interviews sowie der staatlicherseits überlieferten Materialien voll auszuschöpfen und auf hohem Niveau zu bearbeiten.

Der weit verbreiteten Auffassung, dass umfangreiche Einführungskapitel - vor allem wenn sie theoretisch argumentieren - allein den Qualifikationsanforderungen von Dissertationen oder Habilitationen geschuldet und daher mehr oder weniger überflüssig seien, soll hier explizit widersprochen werden. Zwar neigt die oder der Promovierende an sich und offenbar speziell die mit oral history arbeitenden Kandidaten dazu, möglichen Einwänden schon im Vorfeld mit umfangreichen Methoden- und Begriffserläuterungen entgegenzutreten (eine Rechtfertigungsstrategie, die den meisten Kritikern erstaunlich fremd geblieben ist), und sicherlich wäre es auch begrüßenswert, zu anderen Darstellungsformen solcher konzeptionellen Überlegungen zu gelangen, doch grundsätzlich ist Babett Bauer zuzustimmen, wenn sie im Sinne einer gegenstandsnahen Theoriebildung ein Wechselspiel von Methodologie und Empirie für ihren Forschungsprozess als grundlegend erachtet. Dabei sieht sie jeden einzelnen Fall ,,als eigenständige Untersuchungseinheit, der sich in seiner Eigenlogik (re-) konstruiert und nicht in der Theorie untergeht, sondern alle theoretischen Überlegungen stets auf sich bezieht" (S. 38). Nur durch theoretische Konsequenz kann Oral History der Gefahr begegnen, biografische Selbstthematisierungen zu reproduzieren statt zu analysieren. Ein Lebensrückblick ist die sprachliche Form einer aktuellen Erfahrungssynthese, in der die vielschichtigen Deutungen und Überarbeitungen des Erlebten nicht mehr im Einzelnen transparent, sondern in der gegenwärtigen Fokussierung miteinander verschmolzen sind.

Babett Bauer gelingt es, die Oppositionsgeschichte der DDR durch eine kritische Aufarbeitung individueller Lebensberichte zu bereichern, indem sie die Erzählungen der Zeitzeugen in ihrer gegenwartsbezogenen Perspektivität ernst nimmt. Auch wenn offen bleibt, wie innerhalb der entwickelten Typologie die verschiedenen Formen des Erlebens zu denen des Erzählens in Beziehung stehen, bleibt es für eine Gesellschaftsgeschichte der DDR grundlegend, Muster der Identifikation, der Anpassung und der Opposition in einer Diktatur als gesellschaftliche Interaktionsprozesse zu historisieren. Hierfür ist ein theoretisch informierter Umgang mit Zeitzeugenberichten, wie Babett Bauer ihn vorgelegt hat, unverzichtbar.

Ulrike Jureit, Hamburg


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 17. Februar 2009