Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Alf Lüdtke/Michael Wildt (Hrsg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 27), Wallstein Verlag, Göttingen, 2008, 352 S., brosch., 20,00 €.
Der Ausnahmezustand bezeichnet, dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben zufolge, gerade kein Ausnahmerecht. Weder ist er das Andere der Rechtsordnung, das außerhalb von ihr zu lokalisieren wäre, noch eine Art Spezial- oder Sonderrecht, das, wie das Kriegsrecht, eine parallele Welt legalen und legitimen Handelns eröffnet. Der Ausnahmezustand markiert die Schwelle der Rechtsordnung, er ist ein Grenzbegriff. Er ist dem Recht inhärent, selbst Potenz des Rechts, und zugleich Effekt einer Suspendierung des Rechts. Der Ausnahmezustand markiert somit keinen rechtsfreien Raum, sondern einen Raum, in dem das Recht durch das Recht außer Kraft gesetzt ist. Wenn Agamben sich in seiner Theorie des Ausnahmezustands ganz wesentlich auf Carl Schmitt bezieht, so entzieht er dessen Bestimmung das personifizierende Moment eines singulären Akteurs (,,Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet."). Souveräne Macht ist bei Agamben, in Rekurs auf Walter Benjamin und Michel Foucault, die Verfügungsgewalt über das ,,nackte Leben".
Agambens Analysen sind in den letzten Jahren zweifelsohne auch deshalb auf große Resonanz gestoßen, weil sie den ,,Nerv" einer Gegenwart getroffen haben, die sich wie eine Fundgrube empirischer Belege für dessen Thesen darstellte. So schien Guantánamo die Signatur einer neuen Ära der Sicherheitspolitik anzuzeigen, die auch vor der - Praxis, der Legitimierung, der Legalisierung der - Folter nicht mehr zurückschreckt; oder die Migrationspolitik der westlichen Länder schien gezeichnet von einer Matrix des Lagers als dem Ort, an dem sich die Effekte der Ausgrenzung und Entrechtung von Staatenlosen ohne Papiere, die schon Hannah Arendt als Zeichen einer Krise des Nationalstaates ausgemacht hatte, materialisieren.
Wenn man Benjamins ,,Kritik der Gewalt" das Verdienst zurechnen will, eine radikale Kritik des Rechts und des modernen Glaubens in die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit als einer Art Selbstgarantie ermöglicht zu haben, so ist es Agambens Verdienst, diesen kritischen Impetus und eine entsprechende Sensibilität wiederbelebt zu haben. Gleichwohl ist zu Recht auch viel Kritik geübt worden an den verschiedenen Linien der Generalisierung, die Agamben aufzieht. So enthistorisiert er die Bestimmung einer souveränen Macht über das nackte Leben, die er in einer Kontinuität bis in die Antike zurückführt. Indem er ihr überdies eine ausschließlich negativ-repressive Wirkung zuschreibt, verkennt Agamben das Zusammenspiel von produktiven und repressiven Wirkungen einer biopolitischen Macht (im Sinne Foucaults), die gleichermaßen auf den Erhalt und die Förderung des Lebens der Bevölkerung ausgerichtet ist, wie sie Leben vernichtet und zerstört. Und indem Agamben der souveränen Macht einen unmittelbaren Zugriff auf das nackte Leben attestiert, schließt er gesellschaftliche Kräfte aus seiner Analyse systematisch aus - um auf diese Weise schließlich seine eigene Kritik zu entpolitisieren.
Exakt an dieser Kritik setzt die von Alf Lüdtke und Michael Wildt herausgegebene Publikation zu einer Tagung im Rahmen der ,,Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft" (GGG) an. Ausgangspunkt und Zielsetzung ist hier freilich nicht die Auseinandersetzung mit Agambens Thesen, die der Band aber immer wieder, mal implizit, mal explizit, aufgreift, zurechtrückt und differenziert, schon indem er historisch und bei der Analyse ,,alltäglicher Lebenspraxis" ansetzt. Das Problem der Staats-Gewalt als einer Gewalt, die auf der Basis des Rechts operiert, lässt sich, so der Ansatzpunkt, erst in einer Praxis nachvollziehen, die ,,den Staat" ihrerseits erst wirklich werden lässt. Zur Sprache kommen in dieser Lesart nicht nur Agamben und Schmitt, sondern etwa auch Ernst Fraenkels Beobachtung eines Doppelstaates, in dem Recht und Maßnahmen auseinanderdividiert sind; oder Foucaults Konzeption von Staatlichkeit als Effekt von Praktiken der Regierung, die ihrerseits ein ,,soziales Verhältnis" ausbilden. Regierung reduziert sich demnach nicht auf ein Herrschaftsverhältnis, sondern beruht wesentlich auf der Einbindung und Aktivierung sozialer Kräfte. Anders als es eine verbreitete Lesart verstanden wissen will, bringt dieses multivektoriale Kräfteverhältnis die Staatsgewalt indes keineswegs zum Verschwinden.
In einem denkbar weiten zeitlichen und räumlichen Horizont - von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart des palästinensisch-israelischen Konflikts und von der DDR-Bezirkshauptstadt Erfurt in Zeiten der Unruhen um den 17. Juni 1953 über das zaristische Russland und die Revolutionszeit in der Sowjetunion bis hin zur polizeilichen Durchsetzung der Kolonialmächte in Afrika - bringt der Band äußerst heterogene Themenfelder, Phänomene und Akteure zur Sprache: lokale Fürsten und Untertanen, Staatsangestellte, professionalisierte Revolutionäre, soziale Bewegungen und eher spontan oder verstreut Widerständige. Dabei liegt der gemeinsame Nenner der Beiträge darin, die abstrakte staats- und rechtstheoretische Diskussion zum Verhältnis von Ausnahmezustand und Recht, Staat und Gewalt an konkreten Beispielen gleichsam mit Leben zu füllen und so die Unvorhersehbarkeit, Widersprüchlichkeit und Offenheit aufzuzeigen, in der sich politische Programme, Strategien, Interessen und Taktiken in der Alltagspraxis durchsetzen - oder auch nicht durchsetzen. Herrschaftspraxis vollzieht sich als Zusammen- und als Widerspiel der Machtausübung.
Von den überraschenden Einsichten und theoretischen Differenzierungen sei hier nur eine Auswahl aus dem Band skizziert: So kann Alf Lüdtke zeigen, wie der volkspolizeilich erlassene Schießbefehl im Erfurt des Jahres 1953 als administrativ-rechtsförmige Anordnung eine Ermächtigung darstellt und als solche gleichermaßen der Eingrenzung von Gewalt dienen soll wie die Entgrenzung der Gewalt ermöglicht und rechtfertigt - ohne dass indes in diesem konkreten Fall das eine oder das andere so tatsächlich eingetreten wäre. Das gleiche Thema einer Entgrenzung staatlich verordneter Gewalt greift Michael Wildt am Beispiel des Nationalsozialismus auf, der bekanntlich auf der Basis des Ausnahmezustands im doppelten Sinne regierte: als Gewaltherrschaft von oben und als Ermächtigung einer Gewalt von unten. Doch fehl geht wiederum, wer hieraus eine Zwangsläufigkeit ableiten will. Konkrete repressive und gewaltförmige Situationen konnten sich, wie der Autor beispielhaft zeigt, durchaus ambivalent darstellen; anders als es das Wissen um die allzu perfekte Durchorganisation des nationalsozialistischen Gewaltapparats vielleicht vermuten lässt, ließen sie mithin einen Raum für Zivilcourage und Widerständigkeit.
Wenn der Ausnahmezustand als elementarer (und zugleich ,,gefährlicher") Bestandteil des Rechts und der Rechtsordnung zu begreifen ist, so bezieht sich diese Theorie wesentlich auf moderne Staatlichkeit. Achim Landwehr nimmt in seinem Beitrag hingegen eine Art Perspektivumkehr vor, indem er vor Augen führt, wie sich im 17. Jahrhundert allmählich auf der Basis ,,polizeylicher" Interventionen ein Verständnis von der Formbarkeit gesellschaftlicher Wirklichkeit entwickelt. Der Prozess der Sozialdisziplinierung der frühen Neuzeit, den Gerhard Oestreich einst modernisierungstheoretisch gelesen hatte, wird hier noch einmal von den polizeilichen Praktiken her nachgezeichnet, die ihrerseits die Aspiration und Legitimation herrschaftlicher Intervention erst erzeugen - der Ausnahmezustand wird als permanente, ,,reale" Möglichkeit etabliert.
Im Widerspruch sowohl zu Carl Schmitt als auch zu Giorgio Agamben, die von einem Fortbestehen des Staates bzw. der Norm (ohne Geltung) im Ausnahmezustand ausgehen, zeigt Stefan Plaggenborg in seiner Analyse der gesellschaftlichen Umbrüche der (späteren) Sowjetunion, wie der neue Staat aus einem Zustand der Rechtlosigkeit heraus entsteht und sich als solcher selbst ein Recht der Gewalt verschafft.
William Scheuerman problematisiert die Idiosynkrasien der US-amerikanischen Präsidialdemokratie am Beispiel der post 9/11-Politik der Bush-Regierung. Die institutionalisierte Personalisierung der Politik, die sich in der Figur des Präsidenten eher als ein Relikt königlicher Macht darstellt, steht demokratisch-rechtsstaatlichen Kontrollprinzipien tendenziell entgegen, eine Tendenz, die sich in Krisenzeiten sogar noch verstärkt. Die stets nachgelagerten parlamentarischen und judikativen Kontrollinterventionen hinken der institutionell abgesegneten Machtüberschreitung notorisch hinterher. Ob die Ausnahme allerdings rechtlich gezähmt werden kann, wie der Autor in einem Stufenmodell zeitlicher Befristung des Ausnahmezustand und der parlamentarischen Kontrolle vorschlägt, bleibt weiter zu erörtern. Hat das Recht, das zukünftiges Handeln immer nur konditionell bestimmen, nicht aber vorhersehen und determinieren kann, gegenüber präemptiven politischen Ambitionen im Namen der Sicherheit nicht prinzipiell das Nachsehen?
Wenn kritische Sozial- und Geschichtswissenschaft sich darin zeigt, die Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit sozialer Wirklichkeit sichtbar zu machen, die sich politisch und rechtlich nicht einfach steuern, aber auch nicht einfach dominieren lässt, dann ist dieser interdisziplinär angelegte und empirisch gesättigte Band ein gelungener Beitrag zur Diskussion und Problematik der Staatsgewalt, die sich im Namen von Krisenbewältigungen und Sicherheit immer wieder überbordende Handlungsbefugnisse zu verschaffen sucht.
Susanne Krasmann, Hamburg