ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ringo Wagner, Der vergessene Sportverband der DDR. Die Gesellschaft für Sport und Technik in sporthistorischer Perspektive (Sportforum. Dissertations- und Habilitationsschriftenreihe, Bd. 16), Meyer & Meyer Verlag, Aachen 2006, 301 S., kart., 23,95 €.

Sport war in der sozialistischen Gesellschaft Bestandteil einer sozialistischen Körperkultur. Die Gesellschaft für Sport und Technik, kurz GST, war dabei nur einer der vielen Sportorganisationen innerhalb der DDR. Durch ihre tausenden Grundorganisationen hielt die Massenorganisation GST für fast jeden Bürger dieses Landes ein spezielles Angebot bereit. Ringo Wagner versucht mit dem vorliegenden Buch, eine erste sporthistorische Aufarbeitung der GST zu tätigen. Er untersucht die Rolle der GST im Sportsystem der DDR und behandelt neben dem Sektor der sportiven Freizeitgestaltung ihr Auftreten als paramilitärischer Verband. Der Zeitrahmen dieser Analyse liegt von der Gründung der GST in den 1950er Jahren bis in die beginnenden 1970er Jahre.

Die vorliegende Dissertation erfährt durch den Autor eine Dreiteilung, die es dem Leser ermöglicht, einen Überblick über die allgemeine Sportgeschichte der GST (erster Abschnitt), schwerpunktmäßige Einblicke in die Bereiche des Flugsports und Seesports durch die spezielle GST-Sportgeschichte (zweiter Abschnitt) und die Ergebnisse der Diskussion zur Frage: ,,Armee oder Freizeitklub?" zu erhalten. Zur Beantwortung dieser Leitfrage wird hauptsächlich der See- und Flugsport betrachtet, da sie zu den international relevanten Schwerpunktsportarten der GST gezählt werden können. Der Schwerpunkt ihrer Darstellung liegt dabei auf Entstehungszeit und in den 1950er und 1960er Jahren, wo zahlreiche Kurswechsel und organisatorische Veränderungen stattfanden, und die vorhanden Akten mit offener Kritik und Selbstkritik aussagefähiger sind als Dokumente späterer Zeiten.

Die GST wurde 1952 gegründet und von ,,oben" durch die Staats- und Parteiführung in die Gesellschaft implementiert. Sie sollte die wehrsportliche Ertüchtigung der Jugend vorbereitend auf den Wehrdienst in der NVA und die Erhaltung der Wehrfähigkeit von älteren Menschen ermöglichen. Zusätzlich erfolgte im allgemeinen Wettkampfsport ein Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb sowie im Leistungssport praktizierter Wehrsport. Innerhalb der Organisation waren verschieden Verbände tätig. Wagner stellt in dem Abgleich zwischen diesen Ausrichtungen fest, dass sich die GST zwischen einer sich an Bedürfnissen der Menschen orientierenden Sportorganisation und den Forderungen der SED nachkommenden paramilitärischen Massenorganisation bewegt.

Im dritten Kapitel wird die Organisationsstruktur der GST und deren Einflussfaktoren beschrieben; so wird die Rivalität zwischen FDJ und GST untersucht. Die GST vermochte sich innerhalb der Sportstrukturen in der DDR u.a. durch die erfolgreiche Teilnahme von GST-Sportlern an den Olympischen Spielen in Rom 1960 etablieren. Dieser Erfolg stellte den Höhepunkt der GST dar und führte zur Konzentration auf den Leistungssport.

Im Rahmen seiner schwerpunkthaften Darstellung zur speziellen GST-Sportgeschichtegeht Wagner insbesondere auf den Seesport und Flugsport im Zusammenhang mit der wehrsportlichen Praxis ein. Er zeigt, dass die Abhängigkeit von der Eigeninitiative der Mitglieder, Mangel an Finanzen und ausreichend qualifiziertes (Lehr-)Personal die entscheidenden Faktoren waren, um die ehrgeizigen Ziele zum Ausbau dieser Sportarten umzusetzen. Die Betriebsaufnahme beim Flugsport erfolgte im Vergleich dazu schneller und reibungsloser. An dieser Stelle wird deutlich, dass zur Aufrechterhaltung des Sportbetriebes die NVA u.a. für die Motorflugausbildung und die Entwicklung im Tauchsport herangezogen wurde.

Der Beginn der internationalen Sportarbeit der GST erfolgt mit ihrer Einbeziehung in internationale Wettkämpfe. Beschrieben werden die ausgeprägten Bemühungen der GST-Bereiche Modellbau und Flugsport, in entsprechenden internationalen Organisationen aufgenommen zu werden, um dort Anerkennung und Einfluss zu erlangen. Es wird deutlich, dass bei den verschiedenen Sportveranstaltungen konkrete Leistungsziele in den einzelnen Wettkampfklassen festgeschrieben waren und dass deren Einhaltung akribisch gefördert wurde.

Die Entwicklung des See- und Flugsports der GST in den 1960er Jahren wird in Kapitel sieben thematisiert. Wagner analysiert Organisations- und Ausbildungsanweisungen, deren Zielstellung u.a. Festlegungen hinsichtlich der zu erreichenden Mitgliederzahl, der flächendeckenden Bildung von Grundorganisationen und der umfassenden Organisation der vormilitärischen Ausbildung einschloss. Spätestens an dieser Stelle erkennt der Leser/die Leserin, dass innerhalb der GST nicht nur mit regelmäßiger Wiederholung Pläne für die weitere Arbeit erstellt wurden, sondern diese häufig zu ehrgeizig für eine vollständige Umsetzung waren, und selten die erstrebten Ergebnisse brachten. Die ständige Diskrepanz zwischen den Ansprüchen der GST-Führung und der Wirklichkeit war für die ersten 20 Jahre ihres Bestehens typisch und immanent.

Mit der Schlussbetrachtung der Untersuchungsergebnisse versucht der Autor auch die eingangs vorgestellte Frage zu beantworten, ob die GST eine Armee oder ein Freizeitklub war. Wagner kommt zu dem abwägenden Schluss, dass der Wehrsport in der DDR nur einen bedingten Neuanfang gestartet hat, da viele GST-Angestellte Angehörige der Wehrmacht waren, aber die GST trotz Schwerpunktsetzung auf die Wehrerziehung auch gleichzeitig eine Einrichtung des Alltagssports in der DDR war. Mit seiner Dissertation zur Geschichte der GST trägt Ringo Wagner zur Untersuchung der deutschen Sportgeschichte bei und legt damit den Blick auf eine spezifische Seite einer bislang unterbelichteten Organisation des DDR-Sports frei.

Ulrike Hoffmann, Dunfermline


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