Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Matthias Rogg, Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft in der DDR (Militärgeschichte der DDR, Bd. 15), Ch. Links Verlag, Berlin 2008, 720 S., geb., 39,90 €.
In den letzten Jahren hat sich das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Potsdam immer wieder mit Publikationen zur Militärgeschichte der DDR hervorgetan. Verschiedene Autoren haben sich mit Militär, Staat und Gesellschaft, mit widerständigem Verhalten von DDR-Soldaten oder dem ,,feldgrauen" Erbe der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR auseinandergesetzt. Dabei konnten sie viel Licht in das weitgehende Dunkel bringen, das die ostdeutsche Armee nach der Wiedervereinigung in vielerlei Hinsicht umgab. Ein weiterer wichtiger, ja zentraler Schritt wurde nun von Matthias Rogg mit der vorliegenden Studie getan. In seiner an der Universität Potsdam angenommenen Habilitationsschrift versucht Rogg, dem Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der DDR auf den Grund zu gehen. Der Titel der Veröffentlichung deutet die erkenntnisleitende Fragestellung bereits an: War die NVA tatsächlich eine ,,Armee des Volkes", wie die SED-Propaganda suggerierte?
Rogg bedient sich zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage eines breiten Spektrums an Materialien, die einleitend einer reflektierten Kritik unterzogen werden. Hinterlassenschaften der NVA, der SED, der Staatssicherheit und anderer staatlicher Stellen werden ebenso ausgewertet wie Filmmaterial, Erinnerungsliteratur und die Ergebnisse von Zeitzeugenbefragungen. Besonders interessant wie gelungen ist die kritische Verwendung von Materialien der empirischen Sozialforschung der DDR, die mit der gebotenen Vorsicht immer wieder zur Klärung schwieriger Detailfragen herangezogen wurden. Nachvollziehbar ist zudem die Fokussierung auf die Garnisonsstädte Wolfen und Bitterfeld im ,,Chemiedreieck" der DDR. Dieser sehr stark von der Industrie geprägte und dicht besiedelte Raum birgt für die Untersuchung den Vorteil, dass beide Städte NVA-Standorte waren, die Aktenüberlieferung ausgesprochen gut ist und zudem Betriebsakten ortsansässiger Betriebe ausgewertet werden konnten, in denen Kräfte der NVA recht regelmäßig im Einsatz waren.
Rogg beginnt seine Darstellung mit einem Überblick über das parteimäßig propagierte Bild der NVA, das geprägt war von der Konfliktkonstellation des Kalten Krieges. Die ,,Armee des Volkes" sollte vorrangig ,,allseitig entwickelte sozialistische" Persönlichkeiten in ihren Reihen vereinen, die, geprägt von einem tiefen Hass gegen den westlichen Klassenfeind, bereit wären, ihr Leben für die Verteidigung der DDR zu geben. Viele waren allerdings eher bereit, Heimat und Familie zu schützen als die Errungenschaften des Realsozialismus. Insbesondere nach der Einführung der 18-monatigen Wehrpflicht 1962 sollte allen Bürgern daher ein Feindbild eingeimpft werden.
Dazu bediente sich die DDR eines umfassenden Systems der ,,wehrpolitischen Mobilisierung", wie Rogg im zweiten Kapitel nachweisen kann. Gesellschaft für Sport und Technik (GST), Wehrsport, Kulturarbeit, Film, Fernsehen, Presse und Kunst waren Teil eines Versuchs der allumfassenden Mobilisierung der Bevölkerung im Kampf gegen den ,,imperialistisch-militaristischen Westen". Dabei schreckte die SED auch nicht davor zurück, militäraffines Verhalten bereits bei den kleinsten DDR-Bürgern zu erzeugen. Rechenaufgaben mit militärtechnischem Hintergrund, Wehrunterricht in Schulen (ab 1978) und Studium dienten letztlich der Herstellung umfassender Wehrbereitschaft, die von den Kindertagen bis ins Rentenalter alle erfüllen sollte. Gleichzeitig hoffte man, dadurch eine größere Akzeptanz für die ,,bewaffneten Organe" zu generieren. Die Realität sah freilich anders aus.
Die allgegenwärtige Propaganda für den ,,Friedensdienst" in der NVA diente nicht zuletzt auch der Nachwuchsgewinnung, die im Laufe der Jahre zunehmend Probleme bereitete. Die meisten männlichen DDR-Bürger waren zwar bereit, Wehrdienst zu leisten, aber nur die wenigsten mochten sich verpflichten. Die Akteure der Nachwuchsgewinnung operierten folglich nicht selten mit uneinlösbaren Versprechungen hinsichtlich der Standortwahl oder der Bereitstellung einer Wohnung. Letzten Endes waren es in vielen Fällen die weniger starken Schüler, die ihre Chance in einer Verpflichtung bei der NVA sahen. Diejenigen mit besseren schulischen Leistungen suchten ihr Glück lieber in anderen gesellschaftlichen Sparten. Oft lockte einzig die Aussicht auf einen Studienplatz, der meist an eine dreijährige Dienstzeit als Vorbedingung geknüpft war, junge Männer in die Arme der NVA.
Was sie dort erwartete, kann Rogg in seinem vierten Kapitel eindrücklich zeigen. Allgegenwärtige Bereitschaftsdienste, wenig Ausgang, kaum Urlaub waren der Tribut, den die Soldaten an die ständig hohe Gefechtsbereitschaft zu zahlen hatten. Umgekehrt wurden den Landesverteidigern in den ostdeutschen Streitkräften deswegen aber kaum Vorzüge zuteil. Sie stießen oft auf geringe Gegenliebe bei weiten Teilen der Bevölkerung, verdienten, gemessen an ihrem Stundenpensum, vergleichsweise wenig, und waren zudem nicht selten schlecht untergebracht. Vor allem Wehrdienstleistenden widerstrebten das Verhalten und der Umgangston ihrer Vorgesetzten. Die berühmt-berüchtigte ,,Entlassungskandidaten-Bewegung" 1 und die mit ihr verbundene Brutalität sorgten bei nicht wenigen Rekruten für äußerst schlechte Erinnerungen an ihre Zeit ,,bei der Fahne". Auch die immerwährende politische Indoktrinierung konnte die meisten Soldaten über derlei gravierende Missstände nicht hinwegtrösten. Die insgesamt schlechten Rahmenbedingungen und die hohe physische und psychische Belastung durch den Dienst führten insbesondere bei Längerdienenden häufig zu familiären Zerwürfnissen und zerrütteten Ehen (Kapitel V).
Soldatischer Alltag im real existierenden Sozialismus bedeutete vor allem in den achtziger Jahren immer häufiger auch Arbeitseinsatz in der Volkswirtschaft. Erstmalig kann Rogg in seinem sechsten Kapitel zeigen, wie die Soldaten der NVA als ,,Acker- und Fabriksoldaten" an allen ,,Fronten" der Planwirtschaft Dienst taten. Insbesondere bei Ernteeinsätzen, größeren Bauvorhaben oder bei der Braunkohleförderung ging ohne die NVA in vielen Fällen nichts mehr. In Verbindung mit anderen Unzulänglichkeiten trugen diese Einsätze durchaus bei zur Erosion der politischen Zuverlässigkeit der NVA. Einerseits erfuhren die Soldaten nun tagtäglich, wie schlecht es um die Wirtschaft bestellt war, andererseits regte sich viel Unmut darüber, dass sie als billige Arbeitskräfte in der Volkswirtschaft schuften mussten. Auch das stets gepflegte Feindbild Bundesrepublik war für viele Soldaten jenseits des Eisernen Vorhangs immer weniger überzeugend. Insbesondere bei den Wehrpflichtigen schwand die Bereitschaft, den Dienst an der Waffe auch wirklich zu leisten.
Matthias Rogg hat eine überzeugende Studie vorgelegt, die zu einem Standardwerk der DDR-Militärgeschichte avancieren dürfte. So kann er zeigen, dass die NVA eben keine ,,Armee des Volkes", sondern eine ,,Im Dienste der Partei" war. Einzig die Verwendung von Erving Goffmans Ansatz der ,,totalen Institution" ist nicht ganz schlüssig. Zwar waren die Grenzen zwischen Militär und Gesellschaft in der DDR wohl sehr viel weniger porös als in der Bundesrepublik, aber letztlich muss Rogg doch selbst zugeben, dass mit der Einführung der Wehrpflicht 1962 ,,die NVA zu einem relativ durchlässigen Sozialkörper [wurde]. Gesellschaftliche Strömungen wirkten nun in stärkerem Maße in die Armee hinein, und zugleich flossen die hier gewonnenen Erfahrungen, Urteile und sozialen Techniken kontinuierlich in die zivile Gesellschaft." (S. 533f.).
Marcus Sonntag, Erfurt
Fußnoten:
1 Die Wehrdienstleistenden des dritten Diensthalbjahres waren die sogenannten Entlassungskandidaten, die aufgrund ihrer dienstälteren Stellung in der informellen sozialen Hierarchie der Truppe die ,,Neulinge" oftmals mit Billigung der Vorgesetzten drangsalierten.