ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hilfe oder Handel? Rettungsbemühungen für NS-Verfolgte (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Bd. 10), hrsg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Edition Temmen, Bremen 2007, 250 S., geb., 12,90 €.

Der mittlerweile zehnte Band der von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme herausgegebenen Reihe ,,Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland" widmet sich in seinem Hauptteil unter der Leitfrage ,,Hilfe oder Handel?" vielfältigen Formen von Rettungsbemühungen für NS-Verfolgte. Der Begriff Rettungsbemühungen umfasst eine breite Palette an Aktivitäten, die sowohl staatliche Versuche des Freikaufs oder Austauschs von Menschen, die Interventionen internationaler Organisationen und insbesondere die lebensrettenden Hilfeleistungen von Einzelpersonen und kleineren Gruppen innerhalb des Machtbereichs des NS-Systems einschließen. Der vorliegende Band konzentriert sich auf die Hilfe für skandinavische Häftlinge und den Sonderstatus Bergen-Belsens als ,,Aufenthaltslager", zwei Forschungsansätze, die über einige markante Schnittstellen verfügen.

Mit dem persönlichen Einsatz der Hamburger Medizinstudentin und Übersetzerin Hiltgunt Zassenhaus und der norwegischen Seemannsmission für inhaftierte Norweger befassen sich die Beiträge von Herbert Diercks und Christoph Bitterberg. Während die norwegischen Gefangenen hierbei vom rassistischen deutschen Strafvollzug, d. h. ihren Privilegien als Arier ,,profitierten" (S. 118), rückt Hendrik Skov Kristensen die ,,mildernden" Auswirkungen der offiziellen Kopenhagener Verhandlungs- bzw. Zusammenarbeitspolitik für deportierte dänische Polizisten und Widerstandskämpfer in den Vordergrund. Die deutsche ,,Friedensbesetzung" verschaffte Dänemark einen Sonderstatus im besetzten Europa (S. 81).

Auch die bekannteste humanitäre Rettungsaktion in der Endphase des Krieges galt ursprünglich allein norwegischen und dänischen Internierten. Die ,,Weißen Busse" erwiesen sich im Frühjahr 1945 aber auch für Häftlinge andere Nationalitäten als ein letzter rettender Ausweg. Der Beitrag von Claudia Lenz reflektiert die Nachkriegsdiskurse und ordnet die ,,Weißen Busse" als Gedächtnisort mit unterschiedlichen und zum Teil sehr kritischen historischen Deutungen ein. Simone Erpel zeichnet in ihrem Beitrag zu schweizerischen und schwedischen Rettungsbemühungen für im KZ Ravensbrück inhaftierte Frauen noch einmal pointiert die Kontextgebundenheit der Hilfe nach: Neben die Kategorie jüdisch/nicht jüdisch traten auch die Unterscheidung nach Geschlecht und nationaler Herkunft. Angehörige neutraler Staaten verfügten in diesem Sinne über einen strategischen Vorteil. Der Anteil der Frauen und Kinder war ebenfalls hoch, da sie im Gegensatz zu den Männern nicht als potenzielle Soldaten angesehen wurden (S. 97).

Einen Überblick über die Planungen und Ziele, die das im Frühjahr 1943 für jüdische und andere Häftlinge mit Ausweispapieren von neutralen und Feindstaaten eingerichtete ,,Aufenthaltslager" Bergen-Belsen betrafen, liefert Sebastian Weitkamp im Rahmen seiner Darstellung des Besuchs des deutschen Diplomaten und Judenreferenten Eberhard von Thadden im Lager im Juli 1943. Weitkamps Text dient dabei als Schlüsselbeitrag des gesamten Bandes, da er gleichsam alle offiziellen Möglichkeiten, die der Außenwelt eröffnet wurden, um internierte Juden vor der Vernichtung zu retten, aufzeigt und die ,,Angebote" des NS-Systems in ihrem grausamen Zynismus und ihrer Widersprüchlichkeit skizziert.

Neben den skandinavischen Internierten wurde, wie Janine Doerry zeigt, auch den Frauen und Kindern von französischen Kriegsgefangenen ein im Vergleich mit den anderen Häftlingsgruppen privilegierter Status zugestanden. Ihre Deportation nach Bergen-Belsen, vermutlich als Erpressungsaktion gegenüber der Vichy-Regierung initiiert, erwies sich aufgrund des Kriegsverlaufs im Nachhinein als ungeplante Rettungsaktion. Anfang 1943 wurden die Regierungen von verbündeten und neutralen Staaten vor die Wahl gestellt, in ,,Heimschaffungsaktionen" die im deutschen Machtbereich verbliebenen jüdischen Staatsbürger aus dem ,,Aufenthaltslager" zu repatriieren oder sie ihrem Schicksal im Rahmen der ,,allgemeinen Judenmaßnahmen" zu überlassen. Bernd Rother zeichnet in seinem Beitrag die eher zögerlich verlaufenden Bemühungen der spanischen und portugiesischen Regierung nach, ihren Bürgern und Bürgerinnen die Rückkehr zu ermöglichen. In den Mittelpunkt rückt dabei das Schicksal der im besetzten Griechenland lebenden Juden beider Länder. Bergen-Belsen blieb insgesamt aber eine Ausnahme von der Regel. Die intensive Beschäftigung mit dem ,,Fenster zur Freiheit" (S. 13) zeigt indessen deutlich, wie sehr Hilfe und Handel verwoben waren: Die Möglichkeit der Freilassung war ein von den Nationalsozialisten aus unterschiedlichen Gründen ,,geduldeter" integraler Bestandteil der Vernichtungspolitik.

Die der Reihe zugrundeliegende inhaltliche Konzeption basiert auf der Überlegung, für die oftmals nur verstreut zugänglichen regional- und lokalgeschichtlichen Untersuchungen zum NS-Lagersystem und zur Verfolgungsgeschichte in Norddeutschland eine übergreifende Veröffentlichungsplattform zu bieten. In diesem Sinne schließen sich an den Thementeil jeweils die Rubriken Dokumentation, Meldungen und Buchbesprechungen an. Aus diesen sei hier nur kurz der Bericht aus der Praxis von Christine Hatzinger herausgegriffen, der unter dem Schlagwort ,,Hollycaust" auf die Erträge eines Wochenendseminars der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zur Darstellung von Konzentrationslagern und Ghettos in Spielfilmen eingeht: Die Vorstellungswelt der jungen Erwachsenen über Gewaltverbrechen im Nationalsozialismus wie auch ihre Erwartungen an Gedenkstättenbesuche werden in hohem Maße von der audiovisuellen Präsentation des Themas geprägt: Spielfilme wie ,,Schindlers Liste" erzeugen immer ,,klarere" Vorerwartungen oder sogar Vorurteile - z. B. über das ,,richtige Aussehen" eines Konzentrationslagers. Die Didaktik der Erinnerungsarbeit gerät hier - allen berechtigten Forderungen nach Medienkompetenz zum Trotz - zunehmend an ihre Grenzen.

Insgesamt leistet der Band zwar nicht die anvisierte ,,Gesamtschau" (S. 10), gleichwohl aber einen in vielerlei Hinsicht gelungenen Überblick über die ,,von außen unternommenen [...] Rettungsbemühungen" (ebd.), der auch Aspekte für weitergehende Forschungen benennt: So kann der Begriff ,,Hilfe" weiterhin nur im Kontext der konkreten Rettungsbemühung einigermaßen präzise gefasst werden. Das behandelte breite Spektrum widerständigen Verhaltens und verschiedenartiger Rettungsbemühungen zeigt aber noch einmal deutlich, wie stark die offiziellen Hilfsversuche, wenn sie nicht von mutigen Einzelpersonen oder ,,stillen Helden" geleistet wurden, in einem außen- wie innenpolitischen Motivbündel ,,gefangen" waren: Sowohl auf Seiten der Retter wie auch bei den Vertretern des NS-Regimes galt es, auf der Basis der jeweiligen spezifischen Rahmenbedingen Handlungsspielräume auszuloten und diese, so zynisch es klingen mag, gegebenenfalls zu nutzen. Offizielle Hilfe ohne Handel musste deshalb die große Ausnahme bleiben.

Cord Arendes, Heidelberg


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