ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

José A. Piqueras/Vicent Sanz Rozalén (Hrsg.), A Social History of Spanish Labour. New Perspectives on Class, Politics and Gender (International Studies in Social History, Bd. 11), Berghahn Books, New York/Oxford 2007, 330 S., geb., $ 90,00.

Die durchaus lebendige spanische Sozialgeschichtsschreibung ist in Deutschland wenig bekannt. Immerhin verliert die Sprachbarriere mit dem Vormarsch des Spanischen zunehmend an Bedeutung. Einen guten Überblick über die breite Palette von Themen und Methoden der spanischen Sozialhistoriker bietet nun der vorliegende Sammelband. Er macht einem internationalen Fachpublikum eine Auswahl bereits auf Spanisch veröffentlichter Beiträge zugänglich, die für den Stand der Forschung repräsentativ sein will. Sowohl lokalhistorische Forschungen als auch Fragestellungen mit nationaler Reichweite sind vertreten. Politikgeschichte steht neben Genderstudien, Untersuchungen zur Klassenformierung und kulturhistorischen Zugängen. Alle 14 Texte wurden nach 1990 publiziert, überwiegend in der Zeitschrift Historia Social.

Die Einleitung der beiden Herausgeber bietet einen detaillierten Überblick zur Entwicklung der spanischen Historiografie der Arbeiterbewegung. Darin beklagen sie nicht nur das zurückgehende Interesse an diesem Thema (was ein internationales Phänomen, jedenfalls in den Industrieländern, ist), sondern auch eine wachsende Ablehnung durch die Mehrheit der Historikerzunft, die den Studien zur Arbeiterschaft einen Mangel an Wissenschaftlichkeit vorwirft. Piqueras und Sanz Rozalén sehen darin einen Ausdruck ideologischer Befangenheit der Kritiker.

Den Auftakt bilden theorieorientierte Beiträge. Manuel Pérez Ledesma widmet sich der Formierung der Arbeiterklasse. Er beginnt mit einer linguistischen Analyse der Entstehung und Bedeutung der mit der Arbeiterklasse assoziierten Begriffe. So löste ,,Ausbeutung" seit den 1870er Jahren allmählich Begriffe wie ,,Sklaverei" ab. Im Anschluss betrachtet der Autor die Bedeutung von Legenden, Ritualen und Symbolen bei der Klassenbildung. Pérez Ledesma widerspricht energisch Eric Hobsbawm, der eine Abkehr der Arbeiterklasse von Ritualen konstatierte, weil diese als irrational angesehen wurden. Für Pérez Ledesma spielten vielmehr Rituale in der gesamten Geschichte der Arbeiterklasse eine wichtige Rolle. Sie dienten sowohl der Bildung einer gemeinsamen Identität als auch der Mobilisierung. Der Artikel, so vehement er Hobsbawm kritisiert, geht aber doch nicht über E. P. Thompsons Erkenntnisse zur Formierung der Arbeiterklasse hinaus. Explizit greift José Sierra auf E. P. Thompson zurück, wenn er dessen analytischen Ansatz auf die Bergarbeiter der Gegend um Linares in Andalusien zu Ende des 19. Jahrhunderts anwendet. Übermäßiger Alkoholkonsum und wiederholte Gewaltausbrüche werden als spontane, ,,unpolitische" Formen sozialen Widerstandes gegen die Arbeits- und Lebensbedingungen und als Schritte auf dem Weg zur Etablierung als Klasse interpretiert.

Weitere Aufsätzen beschäftigen sich mit ganz unterschiedlichen Aspekten: Carmen Sarasúa beschreibt den Niedergang des sozialen Ansehens des Berufsstandes der Wäscherinnen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, der eng mit der Mechanisierung der Tätigkeit zusammenhing. Francesc Mártinez Gallego untersucht die Durchsetzung der Fabrikdisziplin in der Phase der Frühindustrialisierung am Beispiel von Unternehmen in Valencia zwischen 1840 und 1880. Auch dort war es ein konfliktbeladener Prozess, gegen den die Arbeiter vergeblich aufbegehrten.

Trotz seiner ökonomischen Rückständigkeit war Spanien bereits in der 1864 gegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation vertreten. José Piqueras analysiert die Mitgliederstruktur der spanischen IAA-Sektion und kommt zu dem Ergebnis, dass sich die dortige IAA im Umfeld eines traditionellen demokratischen Radikalismus bewegte, in dem die Brücken zwischen Proletariat und Bourgeoisie noch nicht abgebrochen sein konnten, weil beide Klassen noch gar nicht in ausgereifter Form existierten.

Was bedeutete ,,Revolution" für Republikaner, Sozialisten und Anarchisten zwischen 1873 (im Text heißt es 1837, doch scheint dies ein Druckfehler zu sein) und 1939, also zwischen der ersten Republik und dem Ende des Bürgerkriegs? Javier Paniagua geht dieser Frage nach. Republikaner, so sein Ergebnis, verstanden darunter meist die Modernisierung der Gesellschaft. Der Autor räumt jedoch ein, dass angesichts der Vielfalt an Ausprägungen des Republikanismus eine klare Antwort schwierig ist. Auf sozialistischer Seite konkurrierten die Anhänger einer grundlegenden Veränderung auf evolutionärem Weg, die zum Bündnis mit dem republikanischen Lager tendierten, und diejenigen, die den Punkt für unvermeidbar hielten, an dem Gewalt angewandt werden müsste, und die daher ihre Verbündeten eher bei den linksradikalen Gruppen sahen. Bis in die Bürgerkriegszeit hinein stritten beide Strömungen um die Hegemonie in der Partido Socialista Obrero Español und der ihr nahestehenden Gewerkschaft Unión General de Trabajadores. Und die Anarchisten, die doch in Spanien bis zum Bürgerkrieg so bedeutsam waren? Auch hier gab es ein eher gradualistisches (Paniagua verwendet den m. E. weniger angemessenen Begriff ,,reformist") und ein auf sofortige, gewaltsame Revolution setzendes Lager. Letzteres sammelte sich in der Federación Anarquista Ibérica, die im Gegensatz zum libertären Ideal der anarchistischen Bewegung als Geheimorganisation innerhalb der anarcho-syndikalistischen Confederación Nacional del Trabajo wirkte. Partielle Übereinstimmungen gab es sowohl mit der sozialistischen wie auch mit der republikanischen Revolutionskonzeption. Dass in allen drei politischen Familien Spaniens in der Kategorie ,,Revolution" gedacht wurde, rührt für den Autor aus der Herrschaft ökonomisch schwacher und daher kaum zu Kompromissen bereiter Klassen. Leider fehlt eine Analyse des Revolutionsbegriffs der Kommunisten.

Als letzter Beitrag soll hier der von Julián Casanova zur Frage ,,The Civil War - A Class Struggle" vorgestellt werden. Eingangs beklagt er, dass spanische Historiker des Bürgerkriegs Regionalstudien bevorzugen, Gesamtdarstellungen (und -interpretationen) aber eher aus dem Ausland kämen. Dieser Befund gilt tendenziell auch heute, 14 Jahre nach Erstveröffentlichung des Artikels, noch. Leider erweist sich Casanovas Aufsatz eher als Literaturbericht denn als eigener Beitrag zur Beantwortung der Frage. Er mündet in der Aufforderung nach international vergleichenden Studien, weist aber immerhin als vorsichtig formuliertes Fazit bisheriger Untersuchungen darauf hin, dass der Bürgerkrieg zwischen zwei Interessenkoalitionen, nicht einfach zwischen zwei Klassen ausgefochten wurde.

Angesichts der enormen thematischen Spannbreite dokumentiert der sorgfältig edierte Sammelband eher den Stand der spanischen Sozialgeschichtsschreibung in ihrer ganzen Breite als dass er auf konkrete Debatten abzielt. Nur wenige Beiträge argumentieren pointiert. Eine stärkere thematische und zeitliche Fokussierung (z. B. auf den Prozess der Klassenbildung) hätte das Profil des Buches schärfen können und damit womöglich größere Aufmerksamkeit in Fachkreisen außerhalb des Landes erregt, für die doch die Übersetzungen angefertigt wurden.

Bernd Rother, Berlin


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