ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Regula Argast, Staatsbürgerschaft und Nation. Ausschließung und Integration in der Schweiz 1848-1933 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft , Bd. 174), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, kart., 46,90 €.

Über Jahrhunderte hinweg war die Schweiz vor allem ein Auswandererland. Vom Südrand der Alpen her machten sich in der frühen Neuzeit Händler, Hausierer und Handwerker auf den Weg in die Fremde. Sprichwörtlich war die Welterfahrenheit der Bündner Zuckerbäcker, die beispielsweise in großen Hafenstädten wie Amsterdam und Venedig anzutreffen waren, von wo aus sie ihre Geschäfte manchmal auch nach Übersee ausbauten. Katholische Söldner aus der Innerschweiz dienten in den Heeren der absoluten Monarchen zwischen Paris, Rom und Neapel; den Verteidigern der Tuilerien hat man in Luzern ein Denkmal gesetzt. Auch kannte die Eidgenossenschaft wie andere europäische Länder eine transatlantisch ausgerichtete Emigration. Deren allmählicher Rückgang, vor allem aber die explosionsartige Steigerung der Immigration, ließ in den 1880er Jahren - ähnlich wie im Falle des Deutschen Reichs - den Wanderungssaldo zugunsten der Einwanderungen umschlagen.

Bevor sich unter den Vorzeichen der Massenmigration vielfach ungelernte Arbeitskräfte auf den Weg machten, waren bereits Handwerksgesellen und politische Emigranten in die Eidgenossenschaft gelangt. Italienische Arbeitswanderer traten vor allem entlang der Verkehrswege (Eisenbahn- und Tunnelbau) massiert auf und trugen zu einem explosionsartigen Wachstum der Einwanderungszahlen bei. Recht bald zeigten sich Friktionen zwischen Einheimischen und Italienern, die vielfach isoliert auf den Großbaustellen oder abgeschottet in einigen Stadtvierteln lebten.

Der Zeitraum, in dem eine Reihe von ausländerfeindlichen Nachstellungen die Schweiz erschütterte, steht im Zentrum der Aufmerksamkeit von Regula Argasts Buch. Die Verfasserin, die neuere allgemeine Geschichte an der Universität Zürich lehrt, nähert sich ihrem Forschungsgegenstand ganz bewusst multiperspektivisch: Ob es nun die Nationalismus- oder Geschlechtergeschichte, die Historie von gesellschaftlichen Randgruppen oder die Entstehungsgeschichte moderner Machtstrukturen ist; kaum ein relevanter Forschungszweig des letzten Jahrzehnts bleibt in der Bibliografie und - was weitaus wichtiger ist - im Text selbst ausgespart. Immer handelt es sich darum, möglichst erschöpfende Antworten auf die zahlreichen Fragen nach dem Verhältnis von Ausschluss und Integration der Einwanderer und ihrer Nachfahren zu geben.

Insbesondere befasst sich die Verfasserin mit dem ,,Bürgerrecht", das in der Schweiz nicht so sehr die Rechte des einzelnen Citoyens bezeichnet als vielmehr die Frage beantwortet, wer diese Rechte eigentlich genießen darf. Alte republikanische Traditionen statteten die Angehörigen der Bürgergemeinde mit einer großen Anzahl von Rechten und Privilegien aus, schränkten aber zugleich die Quantität der effektiven Nutznießer sehr stark ein. Das Bürgerrecht war dreigliedrig: Neben der Gemeinde waren der Kanton und der Bund mit seiner Vergabe befasst. Eine Schweizer Besonderheit lag darin begründet, dass die Vertreter dieser drei Instanzen in Bürgerrechtsangelegenheiten keineswegs immer an einem Strang zogen.

Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil die Bürgergemeinde seit der 1848er Verfassung in der alle Einwohner eines bestimmten Gebiets umfassenden ,,politischen Gemeinde" einen lästigen Konkurrenten erhielt. Umstritten war vor allem die Verlagerung von Rechten und Privilegien, die nur der Bürgergemeinde zustanden, auf die Einwohnergemeinde (Bundesverfassung von 1874). In Kantonen mit einem hohen Ausländeranteil konnte aus dieser Konfliktlage eine Bereitschaft der Kommune resultieren, Angehörigen bis dahin diskriminierter Bevölkerungsgruppen wie Juden oder Ausländern einen streng überwachten Zugang zum Bürgerrecht zu gewähren, ohne die Anzahl der Besitzer dieses Rechts mit einem Schlag drastisch zu erhöhen. Dabei traten zuweilen paradoxe Konstellationen auf: In Perioden besonderer Bereitschaft der Zentralgewalt, der politischen Gemeinde zum Durchbruch zu verhelfen, reagierten Bürgergemeinden und Kantone mit einer restriktiven Einbürgerungspolitik. Die vom Bund gewährte Möglichkeit, das ius soli einzuführen, wurde von den Schweizer Kantonen einfach nicht genutzt.

Umgekehrt ließ man sich in den Städten und Kommunen in den 1880er Jahren nicht vom nationalen Überfremdungsdiskurs beeindrucken, der in der Schweiz wiederum zeitgleich zu diversen Nachbarländern (Deutsches Reich, Frankreich) auftrat. Nicht die ,,richtige" Herkunft, Sprache, Konfession oder Hautfarbe trugen in dieser Zeit dazu bei, dem Antragsteller entgegenzukommen, sondern gefragt wurde nach dem Vermögen, das nicht allein vorhanden sondern auch ausreichend versichert sein sollte.

Das Bürgerrecht erhielt somit gleichsam eine Doppelfunktion: Einerseits war es ,,juristisches Instrument souveräner Herrschaft" - dies betrifft den Anteil der Gemeinden und Stimmbürger - andererseits war es ,,gouvernementale Regierungstechnik" (S. 324) - so weit die Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten des Bundes und der Kantone reichten. Die Suche nach Ausgleich, Koordination und Beschränkung staatlicher Macht stand im Vordergrund, anders als beim von Dieter Gosewinkel analysierten deutschen Beispiel, wo Hierarchisierung und Zentralisierung das Feld beherrschten. 1 Ablesbar ist all dies schon am 1848 ausgesprochenen Verzicht des Bundes, ein unitarisches Staatsbürgerschaftsrecht einzurichten. In der armenrechtlichen Bedeutung des Bürgerrechts einzelner Gemeinden sieht Argast einen Hauptgrund dafür, ,,dass die Kompetenzen der Gemeinden in Einbürgerungsfragen und ihre oft von Abwehr geprägten Einbürgerungsbescheide bis weit ins 20. Jahrhundert Bestand hatten." (S. 326).

Die Studie besticht durch die Fähigkeit ihrer Verfasserin, unterschiedliche Denkansätze vorsichtig und gewinnbringend miteinander in Verbindung zu bringen. Die Autorin umgeht so mit großem Geschick verschiedene Einbahnstraßen der Rechts- und Nationengeschichte. Zugleich liefert sie einen überaus wichtigen Beitrag zur Erhellung der seit mehr als einem Jahrzehnt für die Geisteswissenschaften besonders relevanten Problematik von Inklusion und Exklusion.

Rolf Wörsdörfer, Frankfurt/Main

Fußnoten:


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