Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Malte Zierenberg, Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939-1950 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 179), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, 349 S., brosch., 39,90 €.
Schwarzmärkte haben als Faktoren des alltäglichen Überlebens von Stadtbewohnern ihren festen Platz in der kollektiven Erinnerung an die deutsche Kriegs- und Nachkriegszeit. Malte Zierenbergs an der Universität Köln entstandene, von Hans-Peter Ullman betreute Dissertation über den Berliner Schwarzmarkt der Kriegs- und Nachkriegszeit untersucht die ökonomischen, sozialen und räumlichen Aspekte dieses Phänomens. Einleitend verortet der Autor seine Arbeit an der Schnittstelle von Wirtschafts-, Kultur- und Stadtgeschichte - ein innovativer Ansatz, dessen Qualität die Untersuchung eindrucksvoll demonstriert. Als zentraler Begriff für die Analyse dient der ,,Tausch", der auf zwei Ebenen stattfand: Zum einen tauschten Marktteilnehmende im direkten Kontakt, eingebettet in ökonomische, soziale, kulturelle und räumliche Kontexte. Zum anderen wurden Bedeutungen ,getauscht`; die Diskursfigur des ,,Schiebers" war Teil einer ,,komplexitätsreduzierenden Selbstbeschreibung der Berliner Gesellschaft zur Schwarzmarktzeit" (S. 29) und fand sich in öffentlichen Diskussionen ebenso wie in Symbolpolitiken der jeweiligen Machthaber. Die Arbeit ist chronologisch gegliedert und spannt einen Bogen vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die frühen 1950er Jahre. Dabei bildet der im Titel angeführte Zeitraum den Schwerpunkt - trotz einschneidender Veränderungen bildete der Schwarzmarkt in dieser Zeit laut Malte Zierenberg eine jeweils von zeittypischen Charakteristika geprägte Einheit (S. 37).
Das erste Kapitel stellt die Vorgeschichte seit dem ,Steckrübenwinter` 1916/17 dar; von den Bildern und Erfahrungen dieser Zeit suchten sich sowohl die nationalsozialistische als auch später die alliierte Versorgungs- und Symbolpolitiken abzugrenzen. Malte Zierenberg zeichnet nach, wie die NS-Propaganda die Figur des ,,Wucherers" oder ,,Schiebers" zum Sinnbild der gescheiterten Republik und der ,Verworfenheit der Großstadt` stilisierte; parallel dazu zeichneten sich in der Etablierung neuer Einkaufsräume und Wareninszenierungen in Berlin die Veränderungen der Konsumgesellschaft ab.
Den roten Faden des folgenden Kapitels über die Tauschnetzwerke der Kriegszeit bildet der Fall der 1944 angeklagten Schwarzhändlerin Martha Rebbien, die im Mittelpunkt eines umfangreichen Tauschnetzwerks rund um den S-Bahnhof Gesundbrunnen im Berliner Norden stand. Hier wird deutlich, dass illegaler Handel keinesfalls erst nach Kriegsende begann, sondern bereits in der Zeit des Nationalsozialismus. Aus den erhaltenen Ermittlungsakten rekonstruiert Malte Zierenberg ein facettenreiches Bild der Kontaktaufnahme und -pflege im Netzwerk, der Sozialprofile der Teilnehmer, des Wandels sozialer Beziehungen sowie der räumlichen Verortung des illegalen Handels in Stadtvierteln, Wohnungen der Teilnehmenden oder teilöffentlichen Orten wie Gaststätten. Die Analyse von Werten und Währungen, Formen der Buchhaltung und Aspekten von Professionalisierung nimmt den Schwarzmarkt als wirtschaftliches Phänomen ernst und stellt entgegen ,anarchischer` Vorstellungen eine gewisse Regelhaftigkeit fest. Auf der Ebene der Bedeutungszuschreibung wurden in dieser Zeit die aus der Vorkriegszeit bekannten Diskurse weitergeführt, wobei der Begriff des ,,Schiebers" offen blieb und Beobachtern eine ,,situative Zuschreibung" erlaubte, ,,die den einen Fall (etwa im eigenen Bekanntenkreis) noch als Gefälligkeit beschreiben konnte, während in einem andere eindeutige Verurteilungen möglich waren" (S. 176).
Das dritte Kapitel beschreibt, wie sich diese Berliner Schwarzhandelslandschaft angesichts zunehmender Zerstörungen, Orientierungslosigkeit und allgemeiner Auflösungserscheinungen des städtischen Lebens in den letzten Monaten des Kriegs zum öffentlichen Schwarzmarkt wandelte. Daran anschließend (Kap. 4) werden die öffentlichen Schwarzmärkte behandelt, die ab Sommer 1945 zum ständigen Erscheinungsbild der Städte gehörten. Auch hier analysiert Malte Zierenberg die räumliche Verortung der Märkte in der Stadt, stellt die von Unsicherheiten und neuen Routinen geprägten Praktiken auf den Handelsplätzen dar - die zumindest neuen Teilnehmenden einiges an Überwindung abverlangten -, beleuchtet Warenströme und staatliche Eindämmungsversuche. Die detaillierte und anschauliche Schilderung des Schwarzmarkts mit seinen Regeln, ,,die unterschiedliche Rollen- und Interaktionsmuster, Körperpositionen und Praktiken so erfolgreich in Einklang brachten, dass der konfliktträchtige Handel zu einer dauerhaft funktionierenden, sozialen wie räumlichen Institution des Berliner Alltags werden konnte" (S. 213) ist ein großer Gewinn dieser Arbeit. Dabei weist Zierenberg darauf hin, dass mit dem Auftreten von Besatzungssoldaten ein Machtgefälle zwischen teilnehmenden Siegern und Verlierern entstand und die dort gesammelten Erfahrungen zur Entstehung des Topos vom Schwarzmarkt als chaotischer Zustand und Sinnbild sozialer Verwerfungen beitrugen.
Der fünfte Teil untersucht den Einfluss der Währungsreform auf den Schwarzmarkt sowie seinen Stellenwert für die Geburtsstunde der neuen Wirtschaftskulturen in Ost- und Westdeutschland. Abschließend deutet Malte Zierenberg den Schwarzmarkt als ,,radikale Markterfahrung", die mit Vertrauens- wie Misstrauenserlebnissen verbunden war und eine wichtige Referenz für Stabilitätssehnsüchte und Sicherheitskulturen in beiden deutschen Gesellschaften der 1950er bildete. Einiges spreche auch dafür, ,,die spezifische Distanz der Deutschen gegenüber dem liberalen, staatsfernen Markt auch auf diese Erfahrung zurückzuführen" (S. 323).
Malte Zierenbergs Untersuchung entwirft ein facettenreiches Bild des Schwarzmarktes als Ort des Waren- und Bedeutungsaustausches und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Wirtschafts-, Kultur- und Stadtgeschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit. Ihre große Stärken liegen im innovativen Ansatz und der dichten Beschreibung der ökonomischen, sozialen, kulturellen und räumlichen Dimension des Phänomens. Kritisch anzumerken bleibt die Gestaltung der zahlreichen Karten und Schaubilder, die aufgrund der Vielzahl an Grauschattierungen auch mit Legende nur schwer lesbar sind.
Sandra Schürmann, Hamburg