Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Catherine Maurer, Der Caritasverband zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des caritativen Katholizismus in Deutschland, Lambertus Verlag, Freiburg im Breisgau 2008, 328 Seiten, brosch., 30,00 €.
Die Geschichte des deutschen Wohlfahrtsstaates von seinen Anfängen in der Kaiserzeit ist mittlerweile gut untersucht. Das gilt auch für die freie Wohlfahrtspflege und die Bedeutung, die den christlichen Kirchen als ihr Träger zukam. Auch kirchen- und katholizismusgeschichtlich ist das Feld der Caritas inzwischen abgesteckt. Auffällig blieb indes das Fehlen einer Geschichte des Deutschen Caritasverbandes (DCV), jener katholischen Dachorganisation, die seit ihrer Gründung 1897 die zahlreichen katholischen Aktivitäten bündelt, koordiniert und maßgeblich steuert.
Diese Lücke schloss bereits 1995 Catherine Maurers bei Jean-Marie Mayeur an der Pariser Sorbonne eingereichte Dissertation ,,Le catholicisme caritatif dans l`Allemagne du XXe siècle: le Deutscher Caritasverband entre affirmation confessionnelle et exigence scientifique". Ihre Kenntnis blieb jedoch auf einen kleinen Kreis von Spezialisten begrenzt. Die nunmehr vorliegende Übersetzung ermöglicht breiten Kreisen einen historisch ausgesprochen kundigen und sprachlich gelungenen Einblick in eine Caritasgeschichte, der in bester Tradition der französischen Sozial- und Mentalitätsgeschichtsschreibung steht. Für die deutschsprachige Ausgabe wurde das abschließende Literaturverzeichnis durch die wesentlichen, seit 1995 erschienenen Veröffentlichungen ergänzt.
Das Ziel der Untersuchung ist ebenso klar umrissen wie ambitioniert: Die Geschichte des DCV wird sowohl aus katholizismus- und wohlfahrtsgeschichtlicher als auch organisations- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive untersucht. Über die übliche Verbandsgeschichte geht dieser Ansatz weit hinaus. Der DCV wird als Teilgeschichte des katholischen Milieus, seiner Strukturen und agierenden Eliten, seiner Konflikte und Soziologie sowie der identitätsstiftenden religiösen und wissenschaftlichen Selbstreflexion beschrieben und analysiert. Dazu stützt sich die Autorin auf ein breites Fundament der gut erhaltenen Archivüberlieferung des Verbandes und wertet dessen umfangreiches Schrifttum aus.
Die Studie ist chronologisch angelegt und klug gegliedert. Die Vorzüge der umfassenden sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Perspektive werden auf Anhieb erkennbar: Das Gründungsjahr 1897 ist zwar ein bedeutsamer, aber nicht wesentlicher Einschnitt in der Geschichte des DCV. Der entscheidende Aufschwung des Verbandes ist mit dem Ersten Weltkrieg verknüpft, mit dem entsprechend auch der zweite Teil (S. 147-257) einsetzt. Im ersten Teil (S. 21-146) werden die Voraussetzungen analysiert, die eine Verbandsgründung erst ermöglichten. Im Ergebnis präsentiert Maurer keine lineare ,,Erfolgsgeschichte", sondern eine von zahlreichen strukturellen und mentalen Bedingungen ebenso wie von personellen Konstellationen abhängige Entwicklung, die gerade in der Entstehungsphase an Blockaden durch die kirchliche Hierarchie durchaus auch hätte scheitern können.
Nach einer konzentrierten einleitenden Skizzierung von Forschungsstand und Fragestellung werden im historischen Längsschnitt jene gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklungen beschrieben, die in Deutschland zur Gründung und Etablierung eines katholischen Dachverbandes für die vielfältigen caritativen Bewegungen und Organisationen führten. Die vielfältige katholische ,,caritative Renaissance" (S. 23) seit Beginn des 19. Jahrhunderts, die ohne Anstöße der kirchlichen Hierarchie erfolgte, war die entscheidende historische Voraussetzung. Diese Entwicklung war keineswegs spezifisch katholisch. Vielmehr nahm sie Impulse v. a. aus Frankreich auf und erfolgte in Deutschland im konkurrierenden Austausch mit protestantischen und philantropischen Bewegungen. Alle verband die Vorstellung, die auf der Schattenseite der Industrialisierung entstehende soziale Armutsfrage nicht nur als soziale oder politische, sondern auch als religiöse bzw. ,,humanitäre" Herausforderung zu begreifen. Das gesellschaftliche Gewicht solcher religiösen Schubkräfte war im 19. Jahrhundert beachtlich.
Andererseits waren die vielfach aus dem Bürgertum entstandenen caritativen Initiativen nur ein Teil im Strom der entstehenden öffentlichen Armenfürsorge und staatlichen Sozialgesetzgebung, für deren Wirksamkeit ein entsakralisierter Armutsbegriff eine wesentliche Voraussetzung war. Die Erkenntnis, dass man die Arbeiterfrage nicht auf caritativ-fürsorgerischem, sondern nur ,,ex caritate" auf sozialpolitischem Wege würde lösen können, führte innerkatholisch zu Differenzierungen und zur Entstehung des Sozialkatholizismus. Die Caritas-Bewegungen wurden deshalb aber nicht überflüssig. Dem zur professionellen Kleruselite gehörenden Freiburger Domkapitular Werthmann kommt das Verdienst zu, dem zeitgenössischen Zug zur Rationalisierung und Zentralisierung gemäß die vielfältigen caritativen Organisationen in einem Zentralverband zusammengeführt zu haben. Der organisatorische Erfolg Werthmanns beruhte darauf, dass der Caritasverband den Vorstellungen vor allem des katholischen Bildungsbürgertums entsprach, indem er religiös-spirituelle Bedürfnisse und konfessionelle Identität mit wissenschaftlich reflektiertem Anspruch und seelsorglicher Praxis verband. Die diözesenübergreifende Verbandsgründung 1897 musste der um ihren Einfluss fürchtenden kirchlichen Hierarchie mühsam abgerungen werden. Nicht der ,,Kulturkampf", sondern die nationalen Erfordernisse des Ersten Weltkriegs bildeten den entscheidenden Katalysator für den Durchbruch des Verbandes und seine Anerkennung durch die deutschen Bischöfe 1916.
Seinen eindrucksvollen Aufschwung erfuhr der Verband dann in den Jahren der Weimarer Republik. Drei Gründe waren dafür entscheidend: 1.) Die staatliche Anerkennung, die der bischöflichen und päpstlichen während der Kriegsjahre folgte, war die Voraussetzung für die Integration des DCV in den sich nach 1919 entfaltenden dualen Wohlfahrtsstaat. Vor allem stellten die Auswirkungen der wohlfahrtsstaatlichen Gesetzgebung zwischen 1922 und 1924 (Reichjugendwohlfahrtsgesetz; Reichsfürsorgeverordnung) die Arbeit der freien Wohlfahrtsverbände auf eine neue finanzielle Grundlage. Diese nutzte der Verband, um sein Angebot an gewinnbringenden Dienstleistungen (z. B. Krankenversicherung) zu erweitern. 2.) Die Freiburger Verbandszentrale wurde gezielt zu einer administrativen Schaltstelle zwischen den verschiedenen caritativen Initiativen im katholischen Milieu ausgebaut. Ihre auf Effizienz und Professionalisierung gerichtete Arbeit bildete das erforderliche Gegengewicht zum gewachsenen Einfluss, den Bischöfe und Klerus im Zuge der nach 1916 notwendig gewordenen Erneuerung der Organisationsstrukturen gewonnen hatten. Trotz solcher Verschiebungen in der Mitgliedersoziologie und der vorangetriebenen Vernetzungen mit der Pfarrseelsorge im Sinne der von Papst und Bischöfen geforderten ,,Katholischen Aktion" entging der Verband einer ,,Verkirchlichung" (S. 201), die ihn zum Organ der kirchlichen Hierarchie gemacht hätte. 3.) Es gelang dem DCV, das gleichermaßen von konfessioneller Identität und wissenschaftlicher Reflexion bestimmte, spannungsreiche Selbstverständnis den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Gefährdend wirkte sich weniger der vor allem gegen die sozialdemokratische Arbeiterwohlfahrt beschworene ,,Mythos der belagerten katholischen Festung" (S. 231) aus. Vielmehr war es das Risiko einer Austrocknung und Mechanisierung der caritativen Hilfe, welche mit deren Bürokratisierung zunehmend drohte.
Maurers Studie setzt Akzente, die neues, zusätzliches Licht auf das oft scheinbar eindeutige Bild vom antimodern-abgeschotteten bzw. geschlossenen katholischen Milieu werfen. Das trifft zuerst auf die Ausführungen über die konfessionelle Identität zu. Die Caritas-Devise ,,Thut Gutes allen, besonders aber den Glaubensgenossen" (S. 114) wird nicht vorschnell als Exklusion, sondern als eigenständiges religiöses Phänomen gedeutet. Das caritative Handeln, das im 19. Jahrhundert materielle Hilfe auch und vor allem als geistliche Fürsorge (,,Seelenrettung") verstand, wird somit auf seine mentalen Wurzeln zurückgeführt. Es überrascht, wie tief solches, doch in voraufklärerischer Zeit verankerte religiöse Denken in den bildungsbürgerlichen Schichten katholischer ebenso wie protestantischer Provenienz allgemein und bei den Akteuren des Caritasverbandes im besonderen verankert war. Diese blieben aber nicht bei solchem Denken stehen, sondern reflektierten es entsprechend dem aufkommenden Wissenschaftszeitalter in theologischen, philosophischen, nationalökonomischen und wohlfahrtsstaatlichen Kontexten. Die Ablehnung von Nietzsches ,,Antichrist" gehört in diesen Zusammenhang, aber auch die Entwicklung von Solidarismuskonzepten. Die in der Forschung seit längerem vertretene These vom stillen Auszug des Bürgertums aus dem ultramontanen katholischen Milieu ist angesichts von Maurers Beobachtungen zur Caritas neu zu prüfen.
Ebenso ist die in der Forschung geläufige These zu modifizieren, die den deutschen Vereinskatholizismus als modernes Mittel eines abgeschotteten, antimodernen katholischen Milieus deutet. Maurer zeigt, wie sehr der DCV von dem sich seit der Kaiserzeit entfaltenden dualen Wohlfahrtsstaat profitierte, umgekehrt aber auch für dessen Existenz eine wichtige Voraussetzung war. Der Abschottung widerspricht überdies die grenzüberschreitende Auseinandersetzung mit zeitgleichen Initiativen im Protestantismus oder in Frankreich. Die später dann von der Verbandsführung immer wieder proklamierte Gefahr des Liberalismus und Sozialismus schließlich beschwor mehr einen Mythos als die Realität. Mindestens ebenso wichtig waren Effizienz und Professionalisierung der organisierten Caritas. Darüber hinaus unterstreichen die von Maurer herausgearbeiteten Spannungen und Konkurrenzkämpfe, die innerhalb des katholischen Milieus um Auf- und Ausbau des DCV entstanden, dass das augenscheinliche Bild vom geschlossenen katholischen Milieu eine zu geringe historische Tiefenschärfe besitzt.
Der Gewinn von Maurers Studie für das historische Bild des deutschen Katholizismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist offenkundig. Mit der nunmehr vorliegenden deutschsprachigen Übersetzung sollte einer breiteren Rezeption der überzeugenden Resultate nichts mehr im Wege stehen.
Christoph Kösters, Bonn