Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Joyce D. Goodfriend/Benjamin Schmidt/Annette Stott (Hrsg.), Going Dutch. The Dutch Presence in America, 1609-2009 (Atlantic World. Europe, Africa and the Americas, 1500-1830, Bd. 15), Brill Academic Pub., Leiden/Boston 2008, 367 S., geb., $ 129,00.
Der vorliegende Sammelband unternimmt es, die historische Erschließung niederländischer Präsenz in Nordamerika zu bilanzieren. Dieser mit Blick auf die Disparatheit des Forschungsstandes hohe Anspruch wird voll und ganz erfüllt. Die durch einschlägige Forschung ausgewiesenen Herausgeber bilden in ihrer Einleitung ,,Holland in America" den Forschungsgang gut nachvollziehbar ab. Joyce D. Goodfriend, Benjamin Schmidt und Annette Stott weisen dabei auf die Konjunkturen der Dutchness in Amerika hin, von dem Interesse der Verfassungsväter John Adams und Benjamin Franklin an der - wie Horst Lademacher es genannt hat: ,,vorliberalen" - Verfassung der Republik der Vereinigten Niederlande über die Phase literarischen Spotts eines Washington Irving alias Diedrich Knickerbocker (1783-1859), die Entdeckung niederländischer Malerei als identitätsstiftendes Sammelobjekt durch Amerikaner im 19. Jahrhundert bis zur Beheimatung niederländischer Soziologie und Architektur in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies zeigt eines deutlich, ,,that there are several versions of Dutchness in America (...)." (S. 4) Die Forschung, so die Herausgeber, habe sich erst spät, seit den 1970er Jahren, gezielten niederländisch-amerikanischen Fragen gewidmet und dabei bestimmte Regionen - vor allem New York und New Jersey sowie den mittleren Westen -, aber auch bestimmte Themen wie den Einfluss niederländischer Malerei und die Entwicklung des Protestantismus in den Vordergrund gestellt. Kunst-, Religions-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte zu einer Geschichte der ,Dutchness' in den USA integrierende Perspektiven seien ein Desiderat. Einige Lücken schließt dieser Sammelband selbst, u.a. durch das Aufzeigen von Fragestellungen und brauchbaren methodischen Pfaden.
Im Mittelpunkt steht die kulturelle Bedeutung der Dutch Americans für die Entwicklung der amerikanischen Identität seit dem 18. Jahrhundert und bis in die Gegenwart. Auch wenn die Gruppe dieser Bindestrich-Amerikaner nach Zahlen kleiner ist als insbesondere die der deutschen Einwanderer, so steht sie doch in besonderer Weise für die transatlantische Tradition und das Konzept von freiem Handel, nonkonformistischem Protestantismus und liberal verfasstem, tolerantem Zusammenleben. Dieser Hintergrund - kritischer bewertet: ihre ,,whiteness" - erleichterte den niederländischen Immigranten als ,,white Dutch Protestants" die exemplarische Assimilation erheblich. Dennoch war das Verhältnis der niederländischen Amerikaner zu der zunächst englisch dominierten, dann multikulturellen Mehrheitskultur in den USA nicht immer spannungsfrei. In gewisser Weise konkurrierten die nationalen Konzepte und Mentalitäten von ,,Nederlands Israël" - der Niederlande als des von Gott auserwählten ,zweiten Israel' - und der amerikanischen ,,Community Upon the Hill" um den Primat der politisch-moralisch-nationalreligiösen Überlegenheit im atlantischen ,Westen'. Auf der einen Seite stand der aus den altkorporativen Formen Europas gewachsene niederländische ,,Archipel der Verschiedenheiten" (Piet de Rooy), für den Toleranz vor allem eine praktische Tugend war, auf der anderen die sich auf ihrem ewigen Ritt nach Westen und in die Welt stets neu erfindende amerikanische Weltgesellschaft mit ihrem sich selbst erteilten Auftrag ,,to make the world safe for democracy" (Woodrow Wilson). Da es sich dabei um einen Wettbewerb der ,Ideen', der Suggestionskraft und Akzeptanz vorgestellter Gemeinschaften handelt, verstand und versteht sich die Überlegenheit des amerikanischen Konzepts durchaus nicht immer von selbst.
Der erste Abschnitt des Buches thematisiert kulturelle niederländische Einflüsse in der kolonialen Zeit: Malerei und Architektur vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts; der zweite präsentiert amerikanische Interpretationen von Dutchness im 19. Jahrhundert. Hier geht es u.a. um die Deutungsmuster von Washington Irving und John Lothrop Motley. Nur am Rande sei bemerkt, dass im Bereich der Formierung einer schauerromantischen Ironisierung und Verfremdung des Niederländischen interessante Parallelen zum Niederlandebild in Europa, insbesondere in Deutschland - Stichwort: Niederländer als die ,,Chinesen Europas" -, zu bestehen scheinen. Der dritte Teil des Bandes stellt in regionalen Fallstudien Probleme der Immigration im 19. und 20. Jahrhundert vor und fragt nach den Konstruktionskontexten kollektiver Erinnerung und der Erfindung bestimmter niederländischer Vergangenheiten. Hier zeigt sich, dass und warum Niederländer in manchen Beziehungen idealtypische Amerikaner werden konnten und sich die erfundene Tradition schnell auf Windmühlen- und Tulpenfeste reduzieren konnte. Teil Vier zeigt auf, wer im 19. und frühen 20. Jahrhundert niederländische Kunst sammelte und ausstellte, wofür der Titel von Nancy T. Mintys Beitrag stehen kann: ,,Great Expectations: The Golden Age Redeems the Gilded Era". Die Aufsätze im fünften Teil beschäftigen sich mit niederländischen Einflüssen im 20. Jahrhundert u.a. an den Beispielen des Soziologen Fred L. Polak (1907-1985) und des Architekten Rem Koolhaas (geb. 1944).
Besonders hervorzuheben ist der ganz ans Ende gestellte Beitrag des Amsterdamer Frühneuzeitlers Willem Frijhoff, der in einem fulminanten Essay die Erscheinungsformen von ,,Dutchness in Fact and Fiction" in der Neuzeit untersucht. Frijhoff wendet das bekannte konstruktivistische Interpretationsinstrumentarium souverän auf die Wechselfälle niederländischer Identität und Identitätskrisen an. Entscheidend für das Verständnis der Konstruktionsmechanismen niederländischer Selbst- und Fremdbilder, somit insbesondere auch der Dutch Americans auf der anderen Seite des Atlantik, dürfte sein Hinweis sein, dass in der niederländischen Geschichte nicht ein zentraler Akteur - der Nationalstaat - die Bildformung beherrscht hat. (S. 334) Es habe immer mehrere niederländische Parallelnarrative gegeben, am extremsten in der Zeit der sozialmoralischen ,Versäulung'. Es seien bestimmte,,cultural performances of the actual community itself" (S. 335), welche die Niederländer in den Niederlanden oberhalb ihrer Verschiedenheiten zusammenhalten - und die sie von den ganz andersartigen amerikanischen Konstruktionen einer niederländisch-amerikanischen sozialen Kommunikation und Integration unterscheiden. Daher seien die Begriffe Dutch und Dutchness ,,tricky words" (S. 356).
Wer sich über die Niederländer in den USA, ihr Selbst- und Fremdbild sowie über ihre kulturellen Beziehungen zu den Niederlanden von der Kolonialzeit bis heute informieren will, findet hier reiche Anregungen und die solide Grundlage für weitere Arbeit. Die Perspektiven- und Methodenpluralität ist nicht ,buchbindersynthetisch', sondern entspricht den Erwartungen an aktuelle, sozial-, mentalitäts- und kulturtransfergeschichtlich aufgeklärte Arbeiten.
Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe