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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Kirsten Zirkel, Vom Militaristen zum Pazifisten. General Berthold von Deimling - eine politische Biographie (Krieg und Frieden. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Bd. 9), Klartext Verlag, Essen 2008, 272 S., kart., 29,90 €.

Berthold von Deimling (1853-1944), eine der ,,umstrittensten und zugleich populärsten Persönlichkeiten des Deutschen Kaiserreiches und insbesondere der Weimarer Republik" (9), ist nahezu vergessen. Dies erklärt Kirsten Zirkel damit, dass sich dessen Haltungen und Verhaltensweisen einer eindeutigen historischen Verortung entziehen. Für die Historiografie stellt diese Uneindeutigkeit eine Herausforderung dar, der Zirkel mit einem doppelten Zugang Rechnung trägt. Deimling ist für sie in klassisch biographischer Annäherung Kind seiner Zeit und eine Konkretion historischer Entwicklungslinien (S. 12). Zugleich zeichnet sie das Verhältnis zwischen individuellen Überzeugungen und den gesellschaftlichen Entwicklungen schlüssig als ein Spannungsfeld, in dem militärische, mentale, politische und soziale Dimensionen sich teils ergänzen, teils aufeinanderprallen. Entgegen dem Gradlinigkeit postulierenden Titel des Buches entwickelt die Autorin Deimlings Leben als durch extreme Wechsel von Anschauungen geprägte Existenz eines Außenseiters und Individualisten. Mit den politischen Kehrtwenden Deimlings exemplarisch die ,,Strukturveränderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts" zu erfassen, ist eines ihrer Ziele. Damit weckt sie Erwartungen, die sie nicht immer einzulösen vermag. In der weitgehend chronologischen, auf das politische wie militärische Wirken Deimlings konzentrierten Studie bilden gesellschaftliche Entwicklungen häufig eher eine Hintergrundfolie; doch werden in vielen Passagen des sehr flüssig geschriebenen Buches tatsächlich mit den unorthodoxen Reaktionen Deimlings auf gesellschaftliche wie politische Umbrüche auch die mit diesen Umbrüchen einhergehenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und Verwerfungen selbst reflektiert.

Aus einem bürgerlich-liberalen Milieu Badens stammend und weltoffen sozialisiert, wurde Deimling nach der Reichseinigung 1870/71 mit seinem Eintritt in das ehemals badische, nunmehr preußische 113. Infanterieregiment zu einem kaisertreuen Offizier, der das Primat des Militärischen zutiefst verinnerlichte. Diesen ersten Bruch mit liberalen Traditionen vollzog Deimling mit vielen gemeinsam; die Begeisterung über die Reichseinigung unter preußischer Dominanz erfasste gerade die bürgerlichen Schichten; sie fanden im Militär ungeahnte Aufstandsmöglichkeiten, wenn sie sich als linientreu erwiesen. Anpassungsdruck und -bereitschaft gingen hier Hand in Hand. Deimling vertrat das monarchische und antidemokratische Weltbild der preußischen Militärelite mit großer Überzeugung, besonders seit sich mit dem erfolgreichen Besuch der Kriegsakademie sein Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Elite verfestigte. Aufgrund seiner Selbstdisziplin und eines brennenden Ehrgeizes zählte er zu den Nachwuchshoffnungen und kam im Jahre 1900 als Chef der Operationsabteilung II und Oberstleutnant in den Großen Generalstab. Allerdings herrschten rund um Alfred Graf von Schlieffen eine kühle Professionalität und ein technokratischer Geist, der Deimling Zeit seines Lebens fern lag. Sein Hang zu Alleingängen unter Umgehung ziviler wie militärischer Vorgesetzter wurde augenscheinlich nur von der Selbstüberschätzung hinsichtlich seiner Begabungen übertroffen - was zu seiner Versetzung zu einem Truppenkommando führte.

Die Jahre 1904-1907 stellt Zirkel als zentrale Phase von Deimlings militärischer Karriere dar. Als in Deutsch-Südwestafrika der Herero-Aufstand begann, sah Deimling seine Chance gekommen und übernahm das Kommando über das 2. Feldregiment. Er erwies sich als grausamer, eigensinniger und strategisch unfähiger militärischer Kommandeur, der mit Unterstützung des Schutztruppen-Oberkommandierenden General Lothar von Trotha eine Blutspur durch das Land zog. Zirkel erklärt Deimling als hauptverantwortlich für den Genozid an den Herero, der ihrer Meinung nach größtenteils gegen den Willen örtlicher ziviler Stellen durchgeführt wurde, und der zu einer unkontrollierbaren Eskalation des Konfliktes führte. Deimlings Aussage ,,Milde gegen die Eingeborenen ist Grausamkeit gegen die eigenen Leute" (61), am 2. Dezember 1905 vor den Abgeordneten des Reichstages formuliert, brachten ihm den Ruf als ,,Scharfmacher" ein. Dass er militärische Entscheidungsbefugnisse stets höher ansetzte als jene ziviler Machtinstanzen, brachte ihm die Unterstützung Kaiser Wilhelms, der ihn 1905 nicht nur adelte, sondern am 25. Mai 1906 zum Nachfolger Trothas ernannte, mit der Maßgabe, den Krieg möglichst rasch zu beenden. Wohl weniger aus eigener Überzeugung denn auf kaiserlichen Willen hin arbeitete Deimling einen Verhandlungsfrieden aus. Zirkel äußert in diesem Zusammenhang die bezweifelbare Position, dass der General ,,frei von rassistischer Ideologie geblieben" sei (S. 70).

Unlösbar mit Deimlings Namen verknüpft ist die sogenannte ,,Zabern-Affäre", der Zirkel breiten Raum einräumt: Zurückgekehrt ins wilhelminische Deutschland setzte sich Deimling an die Spitze jener Kräfte, die Deutschland eingekreist glaubten und für einen Krieg gegen Frankreich agitierten. Deimling trieb als Kommandierender General des XV. Armeekorps in Straßburg die Eskalation gegenüber der französischsprachigen Bevölkerung gezielt auf die Spitze und setzte das Primat militärischer Instanzen gegenüber den zivilen Stellen durch - unter Begehung offenen Rechtsbruchs. Deimlings damals großer Einfluss auf Kaiser Wilhelm macht ihn, wie Zirkel zu Recht schreibt, zu einem Symbol und einem Symptom des wilhelminischen Militarismus und der Schwäche des parlamentarischen Systems.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges verfolgte der General eine aus der Zeit in Deutsch-Südwestafrika bekannte Linie. ,,Deimling lechzte nach militärischen Erfolgen" (S. 96), ging äußerst brutal auch gegen die eigene Truppe vor und neigte zu militärischen Alleingängen. Nicht nur für Kronprinz Rupprecht von Bayern galt Deimling als ,,überschätzter Mann. Es hält sich bei ihm der Verstand dem Willen durchaus nicht die Waage." (S. 105) In Frankreich eingesetzt, zeigte sich sein Geltungsbedürfnis bei skrupellosen Einsätzen gegen die Stadt Ypern, seiner Bereitschaft zum Giftgas-Einsatz, bei der verlustreichen Einnahme von Fort Vaux und strategisch zweifelhaften Angriffen, die dazu führten, dass er zum 1. September 1916 zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde. Kaiser Wilhelm versagte ihm diesmal seine Unterstützung. Doch hoffte Deimling bis zum September 1918 auf eine Wiederverwendung, in der Hoffnung, an einen militärischen Durchbruch entscheidend beteiligt sein zu können.

Erst als sich diese Hoffnung nicht erfüllte, mutierte Deimling zu einem Vernunftrepublikaner, Verfechter einer ,,wehrhaften" Demokratie und zugleich Gegner der deutschen Aufrüstung in der Weimarer Republik. Weniger persönliche Überzeugung als verletzte Eitelkeit (S. 115) nach seiner Zwangspensionierung sowie eine damit und mit dem Zusammenbruch des monarchischen Systems verbundene Identitätskrise führten zu seiner Abwendung von den Werten der preußischen Militärelite: ,,dass ihn die alten Eliten gleichsam aus ihren Reihen verstoßen hatten [...] veranlasste ihn, die radikalste aller denkbaren Gegenpositionen einzunehmen - sein zukünftiges Eintreten für den Pazifismus war zugleich eine Kriegserklärung an sie." (S. 126) Allerdings war damit eine Dynamik in Gang gesetzt, die Deimling nachhaltig veränderte, wenngleich sein Verhalten weiterhin von einsamen Entscheidungen geprägt war. Die Phase 1918/19 ist nach 1870/71 die einschneidendste Umorientierungszeit Deimlings - nur dass er sich diesmal in Gegensatz zur Mehrheit der Gesellschaft und des Militärs setzte.

Deimling gehörte damit zu insgesamt 17 höheren Offizieren, die in Folge des Ersten Weltkrieges die in militärischen Kreisen anerkannten Denkmuster radikal hinterfragten, sich aber nur teilweise als Pazifisten verstanden bzw. als solche verstanden wurden (S. 127 ff). Er vertrat die Position, dass Deutschland eine Armee zur Selbstverteidigung brauche, daher blieb ihm ,,die Aufnahme in die Ahnengalerie der deutschen Friedensbewegung versagt" (S. 16); sein Ansatz zielte auf eine friedliche Revision des Versailler Vertrages und auf ein Wiederherstellung der Stellung Deutschlands als Großmacht. Dies gedachte er nicht durch Aufrüstung, sondern durch den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund und allgemeine Abrüstung zu erreichen, wobei ihm weniger eine Wehrpflichtarmee als eine Berufsarmee vorschwebte (S. 197 ff.). Zirkels Studie vermisst in dem Kapitel über die Weimarer Zeit Spielarten von gesellschaftspolitischem Handeln neu, die meist unter den Begriffen ,,Pazifismus" und ,,Militarismus" subsumiert werden: Obschon sie selbst mit diesen Begriffen operiert, zeigen ihre Beobachtungen, dass diese Begriffe unzureichend sind; so entsprach Deimlings Pazifismus eher einer defensiv ausgerichteten Militärdoktrin; sein Ansatz zur Stärkung des Völkerbundes war eben nicht verbunden mit der Aufgabe eigenständiger militärischer Bewaffnung, ihm schwebte eine auf einer ,,Balance of Power" beruhende Friedensordnung vor. Damals standen vereinfacht zwei Modelle zur Verfügung: Unilaterale Großmacht- und Rüstungspolitik einerseits, und die Stärkung des Völkerbundes als gedachtes Korrektiv und Weltregierung andererseits. Trotzdem sich seither die Koordinaten radikal gewandelt haben, unter denen über Friedensordnungssysteme nachgedacht werden kann, bietet diese Passage des Buches Anregungen, über Ordnungskonzepte nach dem Zusammenbruch hegemonialer Ordnungen nachzudenken.

Wie Zirkel nachweist, zerstörten Deimlings Angriffe auf die deutsche Aufrüstung und die traditionelle Militärelite sowie sein Engagement in der DDP, der Deutschen Liga für Menschenrechte, der Deutschen Friedensgesellschaft und insbesondere sein Engagement im republikanischen Wehrverband Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold sein Verhältnis zu den traditionalen Eliten (S. 175 ff.) wie zur erstarkenden NSDAP nachhaltig. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, bemühte sich Deimling zwar, seine Positionen als vereinbar mit jenen der Nationalsozialisten zu interpretieren - er wurde jedoch zuerst ignoriert und später gedemütigt. Seine partielle Anpassungsbereitschaft bezeugt nicht allein die von Zirkel herausgearbeitete Verkennung des Charakters der NS-Bewegung, sondern eine fortgesetzte Uneindeutigkeit dieses Militärs im Hinblick auf demokratische Strukturen, selbst wenn seine Avancen an den Nationalsozialismus ,,taktischer Natur" (S. 223) blieben. Es stellt sich von daher die Frage, ob das abschließend so positiv gezeichnete Bild von Deimling als Mitbegründer ,,einer demokratischen Tradition und Friedenskultur in Deutschland" (S. 237) nicht doch mit einem (kleinen) Fragezeichen versehen werden muss.

Oliver von Wrochem


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