ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 71), R. Oldenbourg Verlag, München 2008, X + 399 S., geb., 39,80 €.

Die vorliegende Studie entstand im Rahmen des Forschungsprojektes ,,Die Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur" des Instituts für Zeitgeschichte und wurde 2007 von der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift angenommen. Darin unternimmt Dieter Pohl den Versuch, die Besatzungspolitik der deutschen Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion ,,auf der Basis der internationalen Literatur und einer möglichst breiten Auswahl von Quellen" ,,zusammenfassend zu analysieren" (S. 9). Pohl ist dies weitgehend gelungen. Seine Studie besteht aus zwölf thematisch gegliederten Kapiteln, dazu einer Einleitung und einer Schlussbetrachtung. In der Einleitung (S. 1-24) liefert Pohl einen guten Überblick über die einschlägige internationale Literatur und die verfügbaren Quellen. Zu Recht weißt er insbesondere auf die Bedeutung sowohl der Studien von Christian Streit und Christian Gerlach (1) als auch der Ausstellung ,,Vernichtungskrieg" des Hamburger Instituts für Sozialforschung hin (S. 6-8, auch 335).

Die ersten Kapitel des Buches beschäftigen sich mit der Vorgeschichte des Feldzuges. Im ersten Hauptkapitel geht es um die ,,Erfahrungen" (S. 25-62) des deutschen Militärs in der Zeit zwischen dem Anfang des Ersten Weltkrieges 1914 und dem erfolgreichen Feldzug gegen Frankreich 1940. Pohl sieht den Stereotyp vom ,,jüdischen Bolschewismus", ,,der seit 1918 eine Konjunktur unter Militärs und unter Politikern konservativer bis rechtsextremer Couleur erlebte", als ein ,,Schlüssel zur Analyse der Motivation von Massenverbrechen ab 1941" (S. 36). Pohl erkennt auch eine ,,traditionell zögerliche bis ablehnende Haltung des deutschen Militärs zum Völkerrecht", die im Laufe des Polenfeldzuges 1939 ,,eine neue Stufe" erreichte (S. 56). Die Planungen für das Vorgehen der Wehrmacht gegen die Sowjetunion werden im zweiten Kapitel behandelt (S. 63-86). An dieser Stelle geht Pohl nur flüchtig auf diejenige Fäden der Planung ein, die im ernährungswirtschaftlichen Interesse des Ostheeres und der deutschen Heimat die Inkaufnahme des Hungertodes von ,,zig Millionen Menschen" in den besetzten sowjetischen Gebieten vorsahen. Nichtsdestotrotz stellt der Autor fest, dass die Versorgung des Ostheeres ,,überragende Bedeutung" für die Kampfhandlungen hatte (S. 65).

Instanzen, Strukturen und Personal der militärischen Besatzung werden im dritten Kapitel (S. 87-116) untersucht. Zu Recht hebt Pohl hervor, dass die ,,zentrale Schaltstelle der militärischen Besatzungspolitik" sich beim Generalquartiermeister Eduard Wagner, dem ,,Chefversorger des Heeres und damit Schlüsselfigur für die Besatzung", befand (S. 92). Auch die Bedeutung und Verantwortung des Chefs des Generalstabes des Heeres Franz Halder für die Besatzungspolitik ist ,,nicht zu unterschätzen" (S. 92); er wurde schließlich ,,zum zentralen Planer des Krieges gegen die Sowjetunion" (S. 47). In der Tat, wie Pohl klar macht, ist das Oberkommando des Heeres (OKH) ,,in seiner Bedeutung für den Vernichtungskrieg, also die Massenverbrechen und die miserable Behandlung der Bevölkerung im Osten, lange unterschätzt worden" (S. 96). Einen interessanten aber knappen Überblick über die Einwohner der besetzten Gebiete bietet das Kapitel zur Bevölkerung im Westteil der Sowjetunion (S. 117-125). Insgesamt erlebten immerhin an die 55-65 Millionen Menschen die deutsche Besatzung (S. 124). Der Leser hätte sich etwa mehr zur Sozialstruktur der dortigen Bevölkerung gewünscht. Wie das vorangehende Kapitel bietet auch das Kapitel zur Interaktion zwischen Wehrmacht und Zivilbevölkerung (S. 127-147) wichtige Unterkapitel zumindest zum Teil aus der Sicht der Einheimischen.

Im sechsten Kapitel (S. 149-181), das den Titel ,,Von der Hybris zur Ratlosigkeit: Gewalt und Besatzungspolitik in ,,Barbarossa" bis Frühjahr 1942" trägt, erfährt der Leser, ,,dass bereits in der ersten Woche des Feldzuges Tausende von Zivilisten und eine unbekannte Zahl von Kriegsgefangenen ermordet wurden" (S. 151). Dies zeigt deutlich, dass es sich auf der deutschen Seite vom ersten Tag an um einen Vernichtungskrieg handelte und die Gräueltaten nicht etwa als Reaktion auf die Entdeckung von sowjetischen Verbrechen zu verstehen sind. Pohl setzt eine Zahl ,,von 40.000 bis 85.000 Todesopfern der brutalen Anti-Partisanenpolitik im Jahre 1941" an, ,,in einem Zeitabschnitt, in dem die Partisanen noch weit davon entfernt waren, einen ernsthaften militärischen Gegner darzustellen". Hier machten bewaffnete Widerstandskämpfer ,,nur eine kleine Minderheit" aus. Nach Pohl war ,,vor allem" die ,,rassistische Grundstruktur" der Partisanenbekämpfung für die enorme Zahl an Opfer verantwortlich (S. 168-169).

Obwohl Pohl an verschiedenen Stellen betont, dass die wirtschaftliche Ausbeutung ,,zweifelsohne" im Zentrum der Besatzungspolitik stand (S. 14), der Ernährung in der deutschen Kriegs- und Besatzungspolitik ,,eine zentrale Rolle" zukommt (S. 198) und das deutsche Feldzugskonzept mit der Ausbeutung der sowjetischen Landwirtschaft sogar ,,stand und fiel" (S. 142), gehört das Kapitel zur Ernährungspolitik (S. 183-200) dennoch zu den kürzesten und schwächeren des Buches. Die Hungerkatastrophe unter den sowjetischen Zivilisten, die vor allem im ersten Halbjahr 1942 grassierte, ,,war in erster Linie auf die radikale Feldzugsplanung und ihre rassistischen Prämissen zurückzuführen" (S. 193). ,,Insbesondere der Wirtschaftsstab Ost", der im besetzten Gebiet ,,eindeutig als Teil der Wehrmacht" anzusehen ist (S. 347), übernahm diese Planungen und versuchte sie umzusetzen (S. 193). Pohl betont, ,,dass die Mehrheit der Wehrmachtführung den Hunger und auch das Verhungern unter der Bevölkerung in Kauf nahm, bzw. angesichts der eigenen Versorgungsprobleme für richtig und notwendig hielt" (S. 194). Allerdings kommt der Autor erstaunlicherweise zu dem Schluss, dass ,,Hunderttausende" statt Millionen dem Hunger zum Opfer fielen (S. 199, auch 342-343). Unklar bleibt, ob es hier ,,nur" um die Hungertoten in den Gebieten unter Militärverwaltung geht. Letztendlich erwähnt Pohl auch nirgendwo die Gesamtzahl der an Hunger verstorbenen Sowjetbürger. Entgegen den oft zu hörenden Behauptungen apologetischer Historiker steht aber fest, dass der Hunger ab 1941 sich ,,nicht auf Naturkatastrophen oder auf die Transportschwierigkeiten der Wehrmacht zurückführen" lässt, ,,sondern letztendlich auf eine menschenverachtende Politik" (S. 200).

Im längsten Kapitel der Studie (S. 201-242) stellt Pohl zutreffend fest, dass das Massensterben der Kriegsgefangenen im Operationsgebiet ,,eines der größten Kriegverbrechen des Zweiten Weltkrieges" war (S. 221) und ,,eines der größten Verbrechen, das die Wehrmacht als Organisation zu verantworten hat" (S. 218). Hier erfährt der Leser, dass in den Stamm- und Durchgangslagern jeweils genauso viele Menschen starben ,,wie in den großen deutschen Konzentrationslagern" (S. 221). Auf Seiten 221 bis 227 werden die wichtigsten und größten dieser Lager eindrucksvoll vorgestellt. Als ursächlich für das Massensterben unter den sowjetischen Kriegsgefangenen sieht Pohl die mangelhafte Versorgung, die improvisierte Unterbringung und die schlechte allgemeine Behandlung (S. 217). Hier handelte es sich um einen ,,organisierten Massentod" (S. 213) bzw. ein ,,kalkulierte[s] Hungersterben" (S. 237). Für das Kriegsgefangenenwesen im Operationsgebiet war wieder der Generalquartiermeister Wagner zuständig (S. 210). Die Gesamtzahl derjenigen Personen, die als sowjetische Kriegsgefangene galten und in deutscher Hand starben, gibt Pohl mit 2,8 bis 3 Mio. an (S. 240). Obwohl diese Zahl von den breit akzeptierten Ergebnissen der Untersuchung von Christian Streit abweicht, erklärt Pohl leider nicht, wie er zu seiner Sterbeziffer kommt.

Das Kapitel zum Mord an den Juden unter Militärhoheit 1941/42 lässt keinen Zweifel (S. 243-282), dass die Wehrmacht an jedem Aspekt der Verfolgung und Vernichtung der sowjetischen Juden beteiligt war, von namentlicher Erfassung, Fahrdienst und der Bereitstellung von Munition und Absperrungspersonal über die Beschlagnahme von Besitztümern, die Sprengung von Gruben und die Verwischung der Spuren bis hin zur Teilnahme der Soldaten selbst an Erschießungen (zur Beteiligung an Erschießungen: S. 265, 340, 342). Die Zusammenarbeit zwischen der Wehrmacht und dem SS- und Polizeiapparat wurde dabei ,,zur alltäglichen mörderischen Routine" (S. 278). ,,In einigen Fällen ging die Initiative, die Juden möglichst schnell zu ermorden, vom Militär aus" (S. 268). Erdrückend wirkt die abschließende Beurteilung Pohls: ,,Die Ermordung der Juden war keine offizielle Aufgabe des Militärs, sondern ist von diesem freiwillig übernommen worden" (S. 281). Die Behandlung der Bevölkerung und der Kampf gegen die Partisanenbewegung ab 1942 ist Gegenstand des zehnten Kapitels (S. 283-304). Auch im Anti-Partisanenkampf klappte die Zusammenarbeit zwischen Militärs und Polizei ,,in den meisten Fällen reibungslos" (S. 296). Pohl schätzt die Zahl der Menschen, die im Operationsgebiet im Rahmen der Partisanenbekämpfung getötet wurden, auf ,,mindestens 160.000, wahrscheinlich aber weit über 200.000". Er stellt weiterhin fest, dass keine dieser Tötungen auf einem rechtmäßigen Verfahren, etwa durch ein Kriegsgericht wegen Freischärlerei, beruhte (S. 296-297) und dass ,,nur eine Minderheit" zu den Partisanen gezählt werden könnte (S. 297).

In Bezug auf die Zwangsarbeit von Zivilisten im neu besetzten Gebiet, die im elften Kapitel (S. 305-319) untersucht wird, ,,ging die Wehrmacht sofort nach dem Einmarsch über den Rahmen des Üblichen und völkerrechtlich Vertretbaren hinaus" (S. 305). Im Sommer 1942 arbeiteten nicht weniger als 780.000 Zivilisten direkt für das Militär. Selbst Mütter mit Säuglingen waren zur Arbeit heranzuziehen (S. 308). Aus dem Operationsgebiet wurden bis zur Jahreswende 1942/43 über 800.000, bis Oktober 1943 etwa 920.000 und bis Juni 1944 fast 1,4 Millionen Menschen ins Reich deportiert (S. 314, 317). Dort wurden die ,,Ostarbeiter" den sowjetischen Kriegsgefangenen de facto gleichgestellt und ,,erfuhren die schlechteste Behandlung aller ausländischen Zivilarbeiter im Reich" (S. 317). Gegenstand des zwölften und letzten Hauptkapitels ist der Abbruch der militärischen Besatzung und der darauf folgende Rückzug der Wehrmacht (S. 321-335). Die systematischen Zerstörungen, die schon im Laufe des unerwarteten Rückzuges nach der sowjetischen Offensive vor Moskau im Dezember 1941 stattfanden, gehen ,,allein auf das Konto der Heereseinheiten, da Hitler erst im Januar 1942 einen geordneten Rückzug befahl" (S. 322). Bis Ende 1943 waren von der Wehrmacht 885.000 Menschen allein aus dem Mittelabschnitt der Front vertrieben worden, während in den ersten Monaten des Jahres 1944 die Wehrmacht 420.000 Einwohner der Ukraine nach Westen in Marsch setzte (S. 324-325). Nach Angaben des Wirtschaftsstabes Ost wurden ab Frühjahr 1943 etwa 2,3 Millionen Menschen evakuiert; wegen der ,,wilden Vertreibungen" durch die Fronttruppe ist dies laut Pohl jedoch eher als Mindestzahl anzusehen (S. 327). Federführend bei den Räumungen waren die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen (S. 326).

In seiner Schlussbetrachtung (S. 337-356) macht Pohl keinen Hehl aus der Tatsache, dass es in seiner Studie um ,,die brutalste militärische Besatzungspolitik" geht, ,,die die Geschichte bis dahin gekannt hatte" (S. 337). Laut Pohl beruhte diese Besatzungspolitik, die ,,insgesamt im Sinne der NS-Führung ausgeübt" wurde (S. 348), auf zwei grundlegenden Pfeilern: ,,der allgegenwärtige Rassismus und die selbst konstruierte militärische Notwendigkeit" (S. 340). Nach Pohl kommt für die militärische Besatzungspolitik in der Sowjetunion ,,eine zentrale Bedeutung dem OKW, noch mehr aber dem OKH" zu. Das OKH hatte nämlich die Steuerungsfunktion für die Besatzung im Operationsgebiet inne und entwickelte dabei ,,erhebliche kriminelle Energie" (S. 347). Pohl kommt auch zu dem aufschlussreichen Schluss, ,,dass die Zahl der Divisionen, in denen keine Kriegsverbrechen, d.h. widerrechtliche Tötungen von Zivilisten und Kriegsgefangenen verübt wurden, eher gering zu veranschlagen ist" (S. 348). Angesichts dessen überrascht es nicht, dass ,,die Angehörigen der Wehrmacht quantitativ einen erheblichen Teil, wenn nicht sogar die Mehrheit der Verantwortlichen" bei den Massenverbrechen des Deutschen Reiches stellen (S. 349).

Trotz einiger inhaltlicher Unklarheiten (Zahl der Hungertoten und Zahl der in deutscher Kriegsgefangenschaft gestorbenen Gefangenen, s.o.) und geringfügiger Fehler in Bezug auf Ränge und Namen (2) hat Pohl durch seine gekonnte Handhabung der gewaltigen Fülle an Sekundärliteratur, seine meist gründliche Behandlung der Thematik und seine differenzierte und autoritative Analyse eine wissenschaftlich eindrucksvolle Arbeit vorgelegt, die als Standardwerk zur deutschen Militärbesatzung in der Sowjetunion gelten kann.

Alex J. Kay, Berlin

Fußnoten:


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