ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jens Hüttmann, DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen DDR-Forschung, Metropol Verlag, Berlin 2008, 472 S., geb., 24,00 €

Konjunkturen und Entwicklungsverläufe der DDR-Forschung in der Bundesrepublik vor und nach den Umbrüchen von 1989/90 stehen im Zentrum der Dissertation von Jens Hüttmann. Auseinandersetzungen um die Definitionsmacht - eine ,,Zeitgeschichte als Streitgeschichte" ist eher für den Nationalsozialismus bekannt − fanden auch hier statt. Dass diese Debatten sich weiterhin ereignen, zeigt nicht erst der fünfte Band von Hans-Ulrich Wehlers deutscher Gesellschaftsgeschichte. Neben fachlichen Deutungsmängeln, insbesondere über die DDR, wird Wehler nicht zu unrecht vorgeworfen, eine Voraussetzung für Zeitgeschichte nur ungenügend zu reflektieren: die Zeitgenossenschaft der Beurteilenden. (1)

Diese Bedingung fängt Jens Hüttmann in seiner Arbeit ein, indem er den der Alltagsgeschichtsschreibung entstammenden Begriff des Akteurs benutzt und ,,Werturteilsprobleme" der DDR-Forschung berücksichtigt. Er fragt nicht nur nach den theoretischen Fundamenten dieser Forschung, sondern auch nach den Arbeitspraxen der Beteiligten und ihren biografischen Erfahrungshintergründen. Eine zentrale These lautet entsprechend, dass auf der ,,Grundlage abweichender Erfahrungshintergründe [...] unterschiedliche Mischungen von ,Sachlichkeit` und ,Emotionalität` integraler Bestandteil des Forschungsprozesses aller Akteure" gewesen seien (S. 389). Hüttmann bezieht sich dabei auf 22 Experteninterviews, die er anhand eines Leitfadens durchführte. Weiter greift er auf einen umfangreichen Buchbestand zurück, in dem mancher Teil lange Zeit vergessen war. Deutlich werden neben der unterschiedlichen Herkunft der Forscher - manche waren der SBZ/DDR entflohen − auch die zeitgenössischen Arbeitsbedingungen und Erkenntnisinteressen einer Vielzahl von Institutionen, die sich dem neuen Forschungsfeld widmeten.

Im Vergleich zur Forschung über das Dritte Reich kam derjenigen über die DDR von Anbeginn die Funktion zu, die bundesdeutsche Politik zu beraten. Das 1949 gegründete Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen agierte dabei nicht nur als Finanzier, sondern auch als Kanalisierungs- und Kontrollinstanz für vergangenheitspolitisch fragwürdige Persönlichkeiten. Begutachtet wurden die Entwicklungen in der SBZ, Jahre vergingen, bis stattdessen von der DDR die Rede war. Für eine etwaige Wiedervereinigung wurden Pläne entworfen, die allerdings oft in den Schubladen landeten. Als einer der wichtigsten Protagonisten fungierte Karl Christian Thalheim, der die Politik bereits im Dritten Reich beraten hatte. Nun baute Thalheim - durchaus selbstkritisch gegenüber seiner Vergangenheit − eine der wichtigsten Einrichtungen auf, die sich der Erforschung der DDR widmete: das Osteuropa-Institut an der Berliner Freien Universität. Gleiches gilt für das Zentralinstitut 6 der FU Berlin.

Von hier gingen wichtige Impulse aus, um Disziplinen zu versachlichen, die sich der Entwicklung im ,,anderen Deutschland" widmeten: den Sozial-, Politik-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Debatten über die in den fünfziger Jahren aufkommende − und heute wieder populäre − Totalitarismusthese stellten eine der Ursachen dar. Seinerzeit übten Politikwissenschaftler wie Max Gustav Lange, Ernst Richert und Otto Stammer Kritik an jenem Konzept, das von dem seit 1933 in den Vereinigten Staaten weilenden Carl J. Friedrich entworfen worden war. Sie bemängelten vor allem, dass es zu statisch ausfiele und die Akteursebene missachte.

Ein wichtiger Schub zur Versachlichung der bundesdeutschen DDR-Forschung - emotionale Implikationen verschwanden jedoch niemals völlig − vollzog sich Ende der sechziger Jahre, nachdem sie in eine Krise geraten war. Genährt wurde die Krise nicht nur durch einen Generationskonflikt in der Forscher-Community, sondern auch durch die Erkenntnis, dass die Entwicklung in beiden deutschen Teilen unabänderlich getrennt verlief. Als Folge der neuen Ostpolitik der sozialdemokratisch-liberalen Koalition (seit 1969) ging aus dem Ministerium für gesamtdeutsche Fragen das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen hervor. Auf Seiten der Forschung betonten Arbeiten wie die von Peter Christian Ludz, Hartmut Zimmermann, Gert-Joachim Glaeßner und anderen nun nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für die DDR einen sozioökonomischen Modernisierungsprozess. Hieraus erwuchsen wiederum Defizite, die der Forschung nach 1989/90 vorgeworfen wurden, nämlich ,,blinde Flecken" gegenüber dem diktatorischen Charakter der DDR, insbesondere ihrem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) geschaffen zu haben. Als Ausnahme kann der von Repressionen selbst Betroffene Karl Wilhelm Fricke gelten.

Eine erste Historisierungswelle setzte dann während der achtziger Jahre ein. Als Protagonisten traten dabei neben Hermann Weber und Dietrich Staritz - heute ist seine Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter des MfS bekannt - Lutz Niethammer und Christoph Kleßmann hervor. Letztere waren es auch, die erste Verständigungs- und Austauschprozesse mit Kollegen aus dem Osten Mitte der achtziger Jahre begannen.

Neben den ,,blinden Flecken" wurde der DDR-Forschung, vor allem im Bereich der Sozial- und Politikwissenschaften nach 1989/90 vorgeworfen, das Ende des ,,anderen Deutschland" nicht vorhergesehen zu haben. Dieser Vorwurf verkennt jedoch, dass - bis auf den amerikanischen Politologen und für die Genese der Totalitarismustheorie ebenso einflussreichen Zbigniew Brzezinski - ,,weltweit niemand den Zusammenbruch des ,sozialistischen Lagers` vorhergesagt hatte" (S. 303; Hervorhebung i.O.), wie Jens Hüttmann betont. Jenes ,,Prognosedebakel" mündete zunächst in ein ,,Deutungsvakuum", das aber wiederum Raum für Neuorientierungen und -deutungen schuf. Zuerst schlug hier Sigrid Meuschels These vom ,,Absterben der Gesellschaft" in der DDR ein und löste eine bis heute einflussreiche Debatte aus. (2) Sie hatte eine der letzten Arbeiten am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin geschrieben, das nach der ,,Wende" wie andere ,klassische` Institutionen der DDR-Forschung abgewickelt wurde. Zu den schärfsten Kritikern dieser ,Klassiker` avancierten Anfang der neunziger Jahre die zwei Forscher Klaus Schroeder und Jochen Staadt. Sie warfen den Einrichtungen vor, den diktatorischen Charakter der DDR verkannt zu haben. Jens Hüttmann weist aber nach, dass beide Forscher zum Zwecke normativer Interpretationen unter anderem falsch zitierten (vgl., S. 317 ff.). ,,Deutungskämpfe" um die nunmehrige ,,doppelte Vergangenheitsbewältigung" fanden und finden aber nicht nur in der Community der Forscher statt; für pluralistisch verfasste Gesellschaften typisch, eröffnete sich ein heterogenes Debattierfeld, deren Stichwortgeber auch basisgesellschaftlichen Initiativen entstammten.

Die Arbeit Jens Hüttmanns zeigt, dass ein Ende dieser Debatten nicht eingekehrt ist und nicht einkehren wird. Vielmehr hebt er hervor, dass ,,das Verhältnis von Herrschaft und Alltag ein Grundproblem der DDR-Geschichte darstellt" (S. 395; Hervorhebung i.O.) und - das zeigen zuletzt nicht nur die Debatten über das Gutachten der ,,Sabrow-Kommission" von 2006 − weiter darstellen wird.

Jens Hüttmanns Verdienst ist es, Bedingungen und Konjunkturen der DDR-Forschung seit ihrem Bestehen aufzuzeigen und festzuhalten, dass viele der heutigen Forderungen und Einsichten gar nicht so neu sind, wie es scheint. Interessant wäre es gewesen, wenn der Autor − neben bundesdeutschen − zumindest ansatzweise transnationale Entwicklungslinien oder besser noch: Wahrnehmungen der Forscher auf Seiten beider deutscher Staaten berücksichtigt und verglichen hätte. Für künftige Forschungsvorhaben eröffnete sich hier, aber auch für Fragen mit globaler Perspektive, ein ersprießliches Arbeitsfeld.

Jan Kiepe, Erfurt

Fußnoten:


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