ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Anke Stephan, Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen (Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, Bd. 13), Pano Verlag, Zürich 2005, 588 S., geb., 37,00 €.

In der sowjetischen Menschenrechts- und Dissidentenbewegung engagierten sich nicht nur prominente Männer wie Andrej Sacharov oder Alexander Solschenizyn, sondern auch zahlreiche Frauen, denen die Autorin der vorliegenden Studie ihre Arbeit gewidmet hat. Die Historikerin Anke Stephan fragt nach der Rolle von Frauen im sowjetischen Dissenz, ihren Lebensentwürfen, Rollenvorstellungen und Alltagsbedingungen, ohne sie auf eine traditionelle Rezeption als Ehefrauen oder nachgeordnete Helferinnen im Hintergrund zu reduzieren. Damit füllt sie eine Forschungslücke und legt eine inhaltlich und methodisch hervorragende Pionierarbeit vor. Für ihre an der Universität Basel im Jahr 2004 eingereichte Dissertation hat Anke Stephan zahlreiche Zeitzeuginnen in Petersburg und Moskau interviewt und zudem schriftliche Selbstzeugnisse ausgewertet. In einem einleitenden Teil erörtert sie ihre methodischen Zugänge von oral history, Diskursanalyse, Lebenswelt- und Erinnerungsforschung. Sie sieht in den Interviews und Ego-Dokumenten vergleichbare Quellen, die Einblicke in kulturelle Praktiken, subjektive Wahrnehmungen und Erfahrungen gewähren. Die mündlich erzählten oder verschriftlichten Lebensgeschichten sind Rückblicke aus der Gegenwartsperspektive auf die Vergangenheit. Sie richten sich an imaginierte Adressaten und unterliegen spezifischen kulturell geprägten Erzähltraditionen. Sie sind aber nicht nur Aneignungen von bereits vorhandenen Geschichtsbildern oder modellhaften Lebensgeschichten. Gerade in der nachträglichen Sinngebung des eigenen Lebens sieht Stephan das subjektive Moment der Quellen. Da Erinnerungen sich im Laufe der Zeit verändern, von neuen Wahrnehmungen überlagert oder auch vergessen werden, auf zahlreichen Eindrücken wie Bildern, Filmen oder nicht selbst erlebten Erfahrungen beruhen können, erscheinen sie als problematische Quellen für die Rekonstruktion von Vergangenheit. Dieser methodischen Frage begegnet Anke Stephan mit Gabriele Rosenthals Modell von verschiedenen sich überlagernden Erinnerungsschichten, die in Hinblick auf Ereignis, Erlebnis, Sinn und Erzählung untersucht werden können. In den Erinnerungen spiegeln sich Diskurse in Form von Sinnstrukturen, aber sie sind damit nicht gleichzusetzen. Denn als Teil eines kulturellen Gedächtnisses sind Erinnerungen intentional, von Individuen oder Gruppen gewollt. Die Lebensgeschichten der Dissidentinnen gehören zum kulturellen Gedächtnis an die Stalinzeit, das sie mitkonstruieren und von dem sie gleichzeitig geprägt werden. Erlebnis, Erfahrung und Erinnerungen prägen nicht nur Wahrnehmungen und Deutungen, sondern auch Handlungsmuster und -optionen, die sich somit benennen lassen.

Die Verhaftung und der anschließende Prozess von Julij Daniel und Andrej Sinjavskij 1965 können als Beginn der Dissidentenbewegung gelten, da gegen die staatliche Willkür erste Kampagnen für Bürger- und Menschenrechte durchgeführt wurden. Der Begriff ,,Dissenz" stammt aus dem Westen, im Russischen wird seit dem 19. Jahrhundert eher von ,,Andersdenkenden" (inakomyslie) gesprochen. Merkmale der Dissidentenbewegung waren Gewaltfreiheit, Öffentlichkeit und lose Strukturen, unterschiedliche Teilbewegungen und Motivationen. Wichtige Schriften wurden in der Untergrundpresse verlegt, die Samizdat (,,selbstverlegt") hieß.

Der Aufbau des vorliegenden Buches lehnt sich an die chronologisch erzählten Lebensgeschichten an, die in einer typisch russischen Erzähltradition stehen, stark auf politische Ereignisse und Entwicklungen einzugehen. Ein klassisches Vorbild ist die Autobiografie von Alexander Herzen aus dem 19. Jahrhundert. Zu Beginn steht jeweils die Schilderung von Herkunft, Kindheit und Jugend, in der der spätere Lebensweg und die Andersartigkeit bereits angelegt sind. Doch zunächst sahen die meisten in der Oktoberrevolution die Grundlage für einen sozialen Aufstieg, der die jungen Menschen zu loyalen Kommunisten erzog. Aber mit der Kollektivierung der Landwirtschaft regten sich erste Zweifel am sozialistischen Gesellschaftsentwurf, die durch die Erfahrung des stalinistischen Terrors 1937/38 vertieft wurden. Viele Zeitzeuginnen wussten von nächtlichen Verhaftungen, dem plötzlichen Verschwinden von Personen und Repressionen.

Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, der in Russland bis heute der ,,Große Vaterländische Krieg" genannt wird, sind relativ homogen. Trotz der zahlreichen Verluste und Entbehrungen hofften viele auf Liberalisierungen nach dem Krieg oder hatten im Ausland andere Lebens- und Gesellschaftsentwürfe kennen gelernt, die den sowjetischen Lebensstandard in Frage stellten. Zweifel am System wurden durch die scharfen antisemitischen Kampagnen zwischen 1948 und 1953 geschürt, die einige spätere Dissidenten aus einer Gemeinschaft ausschlossen, zu der sie sich zugehörig fühlten. Die Grundlage für das nach Stalins Tod einsetzende politische und soziale Tauwetter wurde in den Nachkriegsjahren gelegt, als sich nichtöffentliche Zirkel jenseits von Kollektiv oder Komsomol bildeten, alternative Lebenskonzepte gesucht und unerlaubte Literatur gelesen wurden. Der Unmut über gesellschaftliche Zustände wandelte sich zu einer Kritik am System nach dem Tod Stalins und im Tauwetter, als nicht nur Chruschtschow 1956 auf dem 20. Parteitag der KPdSU mit den Verbrechen Stalins abrechnete, sondern auch die zahlreich entlassenen Lagerhäftlinge über den Gulag berichteten. ,,Das Lager wurde zum Gedächtnisort im entstehenden Dissenz" (S. 262) folgert Anke Stephan, um den herum sich eine neue Intelligenzija als eine halböffentliche Wertegemeinschaft formierte.

Innerhalb der Dissidentenbewegung gab es zwei konkurrierende Weiblichkeitsbilder: Kämpferin und Helferin, die auch in die weiblichen Erinnerungen einfließen. Entgegen einer Fremdwahrnehmung von Frauen als Helferinnen waren die aktiven Dissidentinnen stolz auf ihre Leistungen, die im Abtippen von Texten, der moralischen und materiellen Unterstützung politischer Gefangener, der existenziellen Absicherung ihrer Familien oder Zivilcourage gegenüber den staatlichen Organen und Auseinandersetzungen mit dem KGB bestanden. Durch weibliche Sozialkompetenz wurden persönliche Beziehungen aufgebaut und erhalten. Aber auch wenn Frauen die Verantwortung für die Dinge des Alltags besaßen, galten sie aufgrund vorherrschender Rollenvorstellungen in der sowjetischen Gesellschaft als weniger wichtig. In einem eigenen Kapitel behandelt die Autorin die Unabhängige Frauenbewegung in Leningrad, die zwischen 1978 und 1982 bestand. Ausblickend schildert sie die Entwicklung bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1991.

Abgesehen von neuen Erkenntnissen zum Umgang mit oral history, Diskurs und Erinnerung verleiht Anke Stephan den Frauen im sowjetischen Dissenz eine Stimme, nennt viele einzelne Schicksale und Namen, wie etwa Tatjana Velikanova, die die ,,Chronik der laufenden Ereignisse" herausgebracht hat. Leser und Leserinnen erhalten Einblicke in Lebensentwürfe und Handlungsoptionen sowjetischer Akteurinnen in Bezug auf die Auseinandersetzung mit einem totalitären Regime.

Carmen Scheide, Basel


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