ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bernhard H. Bayerlein, ,,Der Verräter, Stalin, bist Du!" Vom Ende der linken Solidarität. Komintern und kommunistische Parteien im Zweiten Weltkrieg 1939-1941, Unter Mitarb. Von Natalja S. Lebedewa, Michail Narinski und Gleb Albert. Mit einem Zeitzeugenbericht von Wolfgang Leonhard. Mit einem Vorwort von Hermann Weber (Archive des Kommunismus - Pfade des XX. Jahrhunderts, Bd. 4), Aufbau Verlag, Berlin 2008, 540 S., geb., 29,95 €.

Der ,,Hitler-Stalin-Pakt" von August 1939 mit seinen territorialen Geheimabsprachen machte den Weg in den Zweiten Weltkrieg endgültig frei. Der abrupten Neuausrichtung von sowjetischer wie deutscher Außenpolitik fiel Polen als erstes zum Opfer. Die unerwartete Allianz hielt bekanntermaßen nur knapp 22 Monate. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion ließ Hitler seinem Hass auf ,,jüdisch-bolschewistische" Herrschaft und slawische ,,Untermenschen" wieder freien Lauf. Stalin sah sich auf ein Bündnis mit der ,,imperialistischen" Großmacht Großbritannien zurückgeworfen. Die bisherige Forschung hat vor allem staats- und außenpolitischen Konstellationen und Motive des deutsch-sowjetischen Vertrags sowie seine langfristige Bedeutung für Stalins internationale Politik diskutiert. (1) Der vorliegende Band lenkt die Aufmerksamkeit auf eine zweite Ebene stalinistischer internationaler Beziehungen. Die detaillierte Beschreibung und Dokumentation der Aktivitäten der Komintern und ihrer Mitglieder zu Zeiten des deutsch-sowjetischen Bundes erweitert die Geschichte der ersten Kriegsjahre um die spezifische Perspektive der kommunistischen Weltbewegung. Sie legt neben kruden Fehlkalkulationen und Verantwortlichkeiten Stalins den Blick auf alternative Potenziale einer Idee mit internationaler Ausstrahlungs- und Anziehungskraft frei, die der ,,parteikonforme Arbeiterbewegungsmarxismus der Sowjetunion und der Komintern" nicht zuließ (S. 54). Dabei geht es nicht darum, im Nachhinein die Wirksamkeit nicht-stalinistischer Strategien zu behaupten. Vielmehr lassen sich über das Innenleben der Komintern die Auswirkungen Moskauer Entscheidungen, die sich eben nicht auf territoriale Verschiebungen und dergleichen beschränkten, genauer und deutlicher erfassen. Den Hauptteil des Werks macht, nach einer engagierten Einführung des Autors, eine collagenartige Chronologie aus, die quellengesättigt allgemeine politische Entwicklungen mit Entscheidungen oder Anweisungen der Komintern und Stalins sowie mit zeitgenössischer Kritik an der Moskauer Generallinie zusammenbringt. Diese Darstellungsform vermag es, Dramatik und komplexen Charakter der Abläufe plastisch zu vermitteln. Die vergleichsweise ausführlichen Einleitungen doppeln indes die vorangegangene Darstellung Bayerleins und nehmen die Interpretation der Dokumente vorweg. Zudem eröffnet eine derartige Präsentation auch Raum für impressionistische, spekulativere Ausführungen (S. 350-356, 425 f.).

Die Kominternleitung wurde vom Abschluss des Nichtangriffspakts ebenso überrascht, wie die meisten Mitglieder der sowjetischen Führungsmannschaft. Von den Verästelungen der einschneidenden Neuinterpretation internationaler Konfliktlinien waren mit Dmitrij Manuil'skij und Georgi Dimitroff zunächst selbst die unmittelbaren Hauptverantwortlichen überfordert. Während diese aber von Stalin persönlich vergleichsweise zügig auf die Verdammung des ,,imperialistischen Kriegs" und dabei vornehmlich auf aggressive Propaganda gegen britische und französische ,,Imperialisten" eingeschworen wurden, sahen sich die Kommunistischen Parteien vor Ort mit den verheerenden Folgen des Sowjetunion-zentrischen radikalen Schritts konfrontiert. Hierzu gehörten einmal direkte Verfolgungsmaßnahmen der jetzt als Gegner eingestuften Regierungen in Westeuropa. Als noch schwerwiegender sollte sich die weitere kommunistische Selbstisolierung von bisherigen resp. potenziellen Bündnispartnern im antifaschistischen Kampf erweisen - der parteiamtliche Feldzug gegen die Sozialdemokratie war eine Neuauflage deutscher Erfahrungen. Nationale Parteikader selbst, deren Parteidisziplin die Demoralisierung durch den Pakt mit dem langjährigen Todfeind überwand oder zumindest übertünchte, konnten im weiteren Verlauf Moskauer Schimären einer (partiellen) Legalisierung kommunistischer Aktivitäten in Deutschland oder im besetzten Frankreich zum Opfer fallen. Auslieferungen deutscher Regimefeinde an die Gestapo durch das Volkskommissariat des Inneren (NKWD = Narodny Kommissariat Wnutrennich Djel) bis April 1941 stellen ein eigenes dunkles Kapitel der Hitler-Stalin-Kooperation dar. Auf der Minusseite ist schließlich auch das weltkommunistische Beschweigen nationalsozialistischer Terrorherrschaft und Verfolgung zu verzeichnen. Selbst nachdem die Amsterdamer Bevölkerung im Februar 1941 mit einem Streik gegen Judendeportationen und andere Zwangsmaßnahmen protestiert hatte, fand die Komintern noch keine eigenen Worte gegen den Antisemitismus. Die propagandistische Begleitmusik der Komintern zum sowjetischen Winterkrieg gegen Finnland vertiefte die Diskrepanzen zwischen nationalen Perspektiven und Moskauer Vorgaben zusätzlich: Das Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale und ZK-Sekretär der finnischen Partei, Arvo Tuominen, weigerte sich Ende 1939, in der Volksregierung einen Posten zu übernehmen. In einem offenen Brief an Dimitroff beklagte der finnische Parteiführer, dass die UdSSR einen ,,Krieg gegen das finnische Volk" führe (S. 205 f.). Dieser Befund machte noch einmal klar, dass die Komintern den von Stalin definierten staatlichen Interessen der UdSSR alleinige Priorität einräumte.

Mit schnellen Siegen gegen Frankreich und dem deutschen Ausgreifen auf Südosteuropa 1940/1941 liefen die militärischen Entwicklungen Stalins Erwartungen deutlich zuwider. Die Komintern reagierte mit zögerlichen Anpassungen an die wachsende direkte Bedrohung der UdSSR. Hitlers ,,Unternehmen Barbarossa" löste endgültig den Widerspruch zwischen nationalen Einschätzungen der Kommunistischen Parteien im Westen und der Moskauer Zentrale auf. Die Komintern selbst konzentrierte sich zunehmend auf militärisch-subversive Elemente antifaschistischen Widerstands und zog sich zunehmend aus der Weltöffentlichkeit zurück. Angesichts des deutschen Vernichtungskriegs im Osten und der generellen Besatzungswirklichkeit stellt sich die Frage, ob politische Aktivitäten in dieser Phase Wirksamkeit hätten entfalten können (S. 407). Patriotische, national gefärbte Diskurse entwickelten im Krieg nicht nur in der UdSSR die größte Mobilisierungsfähigkeit. Betrachtet man die Unterschiede, die bis Juni 1941 in den Lageeinschätzungen durch Kommunistische Parteien auf der einen und durch Moskauer Vorgaben auf der anderen Seite ans Licht traten, so wirft der Band implizit die grundsätzliche Frage nach der Belastbarkeit transnationaler Solidarität unter realpolitischen Rahmenbedingungen auf. Stalin sah sich hier sicherlich keinem Dilemma gegenüber. Er besaß auch hinsichtlich der Komintern die unbestrittene Entscheidungsgewalt und ordnete ihre Linie den Interessen der UdSSR unter, wie er sie verstand. Diese schlossen revolutionäre Ansprüche nicht zwangsläufig aus, passten diese aber in sowjetische Sicherheitsbedürfnisse und langfristige Hegemonievorstellungen Moskaus ein; die offzielle Auflösung der Komintern 1943 war ein Beispiel für diese Schwerpunktsetzungen Moskaus. Mit dem Ideal einer international wirksamen Gemeinschaft Gleichgesinnter hatte die gewundene Linie wenig zu tun. Dieser Grundwiderspruch war, betrachtet man die Komintern-Diskussionen der späten 1920er Jahre oder den Großen Terror, sicherlich nicht erst in den Jahren ab 1939 sichtbar. Dass viele Kommunisten Moskau überhaupt noch bis zum Pakt 1939 - und dann darüber hinaus - die Treue hielten, und dass die UdSSR ihre internationale Diskreditierung nach 1941 längerfristig überwinden konnte - trotz immer neuer Einbrüche etwa durch den Aufstand in Ungarn, den Prager Frühling, oder Solschenizyn ,,Archipel Gulag" - führt dazu, dass sich die Forschung auch weiterhin mit den transnational wirksamen Ursachen einer erheblichen Anziehungs- und Prägekraft sozialistischer Entwürfe sowie einer erinnerungspolitische Kurzsichtigkeit ihrer Anhänger auseinandersetzen wird.

Andreas Hilger, Hamburg

Fußnoten:


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