Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Alfons Kenkmann/ Hasko Zimmer (Hrsg.), Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem - Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Klartext Verlag, Essen 2005, geb., 229 S., 19,90 €.
In den Selbstbildern von Staaten spielt der positive Bezug auf die Vergangenheit eine konstitutive Rolle. Dieser ,,Normalfall" gilt aus verständlichen Gründen für die Bundesrepublik nicht. Seit ihrer Gründung war für sie die Abgrenzung vom Nationalsozialismus von herausragender Bedeutung. ,,Vergangenheitsbewältigung" ist in diesem Kontext aber kein spezifisch deutsches Phänomen, auch wenn der bundesdeutsche Umgang mit der belasteten Vergangenheit im internationalen Vergleich als beispielhaft gilt. Seit den politischen Umbrüchen der 1980er Jahre in Ost- und Mitteleuropa, Südafrika und Lateinamerika ist das Problem, mit den Folgen von Unrechtssystemen politisch und rechtlich umzugehen, in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Die Maßnahmen der ,,Vergangenheitsbewältigung" sind international sehr unterschiedlich und reichen von juristischer Strafverfolgung über politische Amnestien bis hin zu Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Diese Unterschiede sind nur in den seltensten Fällen das Resultat einer freien politischen Entscheidung, sondern ihrerseits abhängig von vielen Faktoren. (1)
Die ,,Herausbildung eines neuen transnationalen Musters im Umgang mit Vergangenheit" (S. 8) spiegelt sich in den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes wider, der aus einer im September 2002 in der Villa ten Hompel in Münster stattgefundenen interdisziplinären Tagung hervorgegangen ist. Den Herausgebern ging es um den ,,Versuch, Bilanzierungen der internationalen Entwicklung mit Perspektiven für die Erinnerungsarbeit im 21. Jahrhundert zu verbinden" (S. 8). Der Band ist deshalb in die zwei Abschnitte ,,Bilanzen" und ,,Perspektiven" gegliedert, wobei die Zuordnung der Beiträge etwas willkürlich erscheint. Nach einer knapp gehaltenen Einführung der Herausgeber folgt ein grundsätzlicher Beitrag Moshe Zimmermanns, der die besondere Brisanz der Erinnerung an die Shoah im israelisch-palästinensischen Konflikt herausstellt. Die folgenden bilanzierenden Beiträge umfassen argentinische, chilenische, südafrikanische, polnische, deutsche und japanische Erfahrungen mit der Aufarbeitung der Vergangenheit. Wie bei einem solchen Band nicht anders zu erwarten ist, unterscheiden sich die Beiträge sehr stark im Hinblick auf Ansatz, methodisches Vorgehen und Fragestellung. Als innovativ erweist sich der Beitrag von Ruth Fuchs und Detlef Nolte, die den Aufarbeitungsprozess von Regimeverbrechen in Argentinien und Chile vergleichen. Deutlich wird, dass sich im Demokratisierungsprozess beider Länder vier Phasen unterscheiden lassen: In der ersten Phase nach dem Systemwechsel steht die Suche nach der ,,Wahrheit" hinsichtlich der Regimeverbrechen im Vordergrund. Die zweite Phase ist durch den Widerstand der Täter und ihrer Sympathisanten von Rückschlägen gekennzeichnet. In einer dritten Phase - bereits mit einem gewissen zeitlichen Abstand zum Regimewechsel - wird unter veränderten politischen Rahmenbedingungen noch einmal der Prozess der Wahrheitssuche über die Regimeverbrechen eröffnet. In der vierten Phase geht es schließlich um ,,die zukünftige Verankerung der Regimeverbrechen im kollektiven und kulturellen Gedächtnis der betroffenen Gesellschaften" (S. 44).
Der deutsche Umgang mit belasteter Vergangenheit wird in zwei Beiträgen bilanziert: Marc von Miquels informativer Überblick über den Umgang der westdeutschen Justiz mit der NS-Vergangenheit in den 1950er und 1960er Jahren geht von der These aus, dass ,,zwischen der personellen Kontinuität innerhalb der Justiz und dem Verlauf der Ahndungsaktivitäten in NS-Strafsachen ein enger Zusammenhang besteht" (S. 82). Knut Amelung skizziert die juristische Aufarbeitung des DDR-Unrechts, wobei er sich auf die strafrechtliche Reaktion auf staatlich veranlasste Unrechtstaten wie ,,Totschlag an der innerdeutschen Grenze", ,,Rechtsbeugung" und ,,Spionage" konzentriert. Für eine stärkere Berücksichtigung der individuellen ,,Vergangenheitsbewältigung" in Japan in Form von öffentlichen autobiografischen Erinnerungen plädiert Petra Buchholz.
Im zweiten Teil des Bandes, der Perspektiven für den zukünftigen Umgang mit Vergangenheit aufzeigen will, sticht besonders die Kontroverse zwischen Wolfgang Höpken und Siegfried Gehrmann über den Erinnerungsdiskurs im ehemaligen Jugoslawien hervor. Während Höpken hinsichtlich der Aufarbeitung der Vergangenheit in den Nachfolgestaaten ein skeptisches Bild entwirft und auf die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der Bürgerkriegserfahrungen verweist, sieht Gehrmann zumindest für die ,,Vergangenheitsbewältigung" in Kroatien im Rahmen der neuen ,,postnationalen Konstellation" positive Signale. Einigkeit besteht darüber, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Vergangenheit in den postjugoslawischen Staaten Einzelanalysen erfordern, damit ,,das Spezifische der jeweiligen Erinnerungsarbeit unter dem Mantel des Regionalen überhaupt sichtbar wird" (S. 202).
Hervorzuheben ist weiterhin der informative Überblick von Rainer Huhle über die Arbeit der Internationalen Strafgerichtshöfe. Während diesen in der Regel auf der völkerrechtlichen Ebene eine Instanz zur entschiedenen Umsetzung ihrer Entscheidungen fehlt, können die ,,Ziele von Menschenrechtsarbeit" (S. 123) wie Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit, Rehabilitation der Opfer, Prävention und Versöhnung grundsätzlich auch außerhalb des Strafrechts umgesetzt werden - sofern die gesellschaftspolitische Ebene der ,,Vergangenheitsbewältigung" berücksichtigt wird. Gerd Hankel lenkt in diesem Kontext den Blick auf die ,,Gacaca-Justiz" in Ruanda, die nach der Enttäuschung über den 1994 vom UN-Sicherheitsrat eingesetzten Strafgerichtshof, der lediglich acht Verfahren abgeschlossen hat, reaktiviert wurde. Es handelt sich dabei um eine vorkoloniale Form der Justiz, bei der von der Gemeinschaft anerkannte Personen Streitigkeiten lösen sollen. Dabei geht es nicht nur um die Zuweisung von Schuld, sondern auch um finanzielle Wiedergutmachung und den Aspekt der nationalen Versöhnung.
Obwohl der Band keine grundlegend neuen Aspekte beleuchtet - von den individuellen japanischen Kriegserinnerungen und der traditionellen ,,Gacaca-Justiz" in Ruanda abgesehen - eignet er sich dennoch als einführender Überblick in den Themenkomplex ,,Vergangenheitsbewältigung im internationalen Vergleich".
Michaela Bachem-Rehm, Duisburg/Essen
Fußnoten:
1 Vgl. zur ,,Vergangenheitsbewältigung" im internationalen Vergleich: Helmut König/ Michael Kohlstruck/ Andreas Wöll (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen 1998;
Petra Bock/ Edgar Wolfrum (Hrsg.), Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999;
Jürgen Zimmerer (Hrsg.), Verschweigen - Erinnern - Bewältigen. Vergangenheitspolitik nach 1945 in globaler Perspektive, Leipzig 2004;
Norbert Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006.