ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Volker Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts (Ordnungssysteme: Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 18), R. Oldenbourg Verlag, München 2007, 573 S., geb., 69,80 €.

Fragen nach politischen Zäsuren oder Wendepunkten gehören ebenso wie Untersuchungen über das Wirken individueller oder kollektiver politischer Akteure zum Kernbestand des historiografischen Erkenntnisinteresses. Als Quellen werden in diesem Zusammenhang - mit gewisser Zurückhaltung - auch immer wieder Autobiografien herangezogen, deren Aussagekraft jedoch, so das allgemeine Verdikt der Geschichtswissenschaft, angesichts einer unvermeidlichen Subjektivität stets kritisch zu hinterfragen ist. Bedeutung wird Autobiografien im Lichte ihrer Authentizität insbesondere für die Darstellung einzelner Aspekte erlebter Geschichte sowie für die Offenlegung von Motiven und Werten der handelnden Personen beigemessen. Volker Depkat, Professor für englische und nordamerikanische Geschichte in Regensburg, stellt diese Sicht auf Autobiografien in seiner hier zu besprechenden Greifswalder Habilitationsschrift grundlegend in Frage. Im Sinne einer kulturgeschichtlich erweiterten Sozialhistorie fordert er, die durch Autobiografien vermittelten ,,Lebensgeschichten" wörtlich zu nehmen und diese Quellengattung stärker als bisher in ihrer Ganzheit zu analysieren. Seiner Studie liegt dabei die These zugrunde, dass autobiografische Quellen weniger als historische Materialien Detailkenntnisse vermitteln; vielmehr seien sie mit Blick auf die Art und Weise, wie sie das Erlebte deuten, zu lesen. Vor allem für Fragen zum Epochenbewusstsein des 20. Jahrhunderts und zu dessen Zäsuren könnten so neue Perspektiven eröffnet werden.

Um seine These zu erläutern, entwickelt Depkat in seiner Einleitung ein komplexes Gedankengebäude, das neben Hinweisen auf die Textualität der Autobiografie auch methodische, literaturwissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Überlegungen einbezieht. So verweist er darauf, dass Autobiografien zwar in erster Linie ein Spiegel des Zeitgeistes der Schreibgegenwart sind; er betont aber zugleich auch, dass sie mit ihrer temporalen Erzählstruktur durchaus unterschiedliche Zeitebenen dokumentierten, da sie in der Regel frühere und spätere Bewusstseinszustände des Autors in Bezug zueinander setzten. Für den Historiker sei es vor diesem Hintergrund relevant, so Depkat, zu untersuchen, inwieweit es dem Autoren gelinge, Vergangenheit und Gegenwart im Sinne einer Synthese zu verbinden oder ob von ihm hierauf bewusst oder unbewusst verzichtet werde. Von Depkat wird ebenfalls einleitend dargelegt, dass Autobiografien in erster Linie ,,kommunikative Handlungen" darstellten, die als ,,Ordnungs- und Orientierungsleistung" verstanden werden müssten, da der jeweilige Autor sich durch den Schreibprozess in Beziehung zu seinem Umfeld stelle, durch das er geprägt werde und auf das er mit seinem Werk selbst wiederum Einfluss ausübe. In diesem Sinne könnten Autobiografien durchaus als ,,kollektive Texte", aber auch als Identitätsentwürfe interpretiert werden, die auf Zeiterfahrungen gründen. Kurz gefasst lassen sich diese Überlegungen Depkats auf den folgenden Nenner bringen: Es geht nicht um einzelne Fakten in Autobiografien, sondern um die Art und Weise, wie in Autobiografien Erfahrungen reflektiert werden, die den Zusammenhang von lebensgeschichtlich geprägtem Erzählen und historischen Umbrüchen dokumentieren und so ihrerseits biografischen und historischen Sinn (neu) konstruieren.

Um die Tragfähigkeit des Ansatzes im Hinblick auf die Frage nach den Zeitenwenden des 20. Jahrhunderts zu untermauern, wertet Depkat die autobiografischen Erfahrungsräume von insgesamt 14 Politikern aus, die in der Bandbreite des demokratischen politischen Spektrums verortet werden können - darunter sowohl Sozialdemokraten wie Bürgerliche, Männer wie Frauen, West- wie Ostdeutsche und Katholiken wie auch Protestanten oder Juden. Depkat differenziert diese Gruppe in Anlehnung an Peukert in zwei Generationskohorten: in die Gruppe der um 1870 Geborenen (Gründerzeitgeneration) und in die Gruppe der um 1880/90 Geborenen (Frontgeneration des Ersten Weltkriegs). In der Folge wird in drei Untersuchungsabschnitten zunächst der Entschluss der Politiker zum Abfassen einer Autobiografie im historisch-sozialen Umfeld verortet, sodann das den Werken innewohnende Epochenbewusstsein auf Basis der Grundstruktur der Autobiografien analysiert und schließlich im dritten Untersuchungsabschnitt untersucht, in welchem Verhältnis (Zeit-)Geschichte und Biografie aufeinander bezogen werden können - Depkat nutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der ,,Erinnerungssilhouetten".

Die idealtypische Unterteilung des Schreibanlasses in die drei Kategorien ,,Selbsthistorisierung" im Alter, ,,Selbsttherapie" infolge eines Traditionsbruchs und ,,Emanzipationsstrategie" aufgrund von Marginalisierungstendenzen wird von Depkat überzeugend mit sinn- bzw. identitätsstiftenden Argumenten begründet. Im Hinblick auf die Frage des Epochenbewusstseins treten in den analysierten Schriften die Jahre 1933 und 1945 als Zäsuren deutlich hervor, während andere politische Schlüsseldaten wie 1914 bzw. 1918/19 nicht von allen behandelten Politikern in gleichen Maße als Zäsur wahrgenommen wurden. Stellte der Systemwandel zur Weimarer Demokratie für die sozialdemokratischen Politiker Albert Grzesinski, Wilhelm Dittmann, Wilhelm Keil eine - unerwartete - Chance dar, war er für bürgerliche Politiker wie Konrad Adenauer, Arnold Brecht oder Hermann Pünder mit erheblichen Sorgen und Befürchtungen verbunden. Die Ergebnisse des dritten Untersuchungsabschnittes werden von Depkat am ausführlichsten in einem längeren Schlusskapitel ausgebreitet, in dem insbesondere der enge Zusammenhang von individueller Biografie und allgemeiner Geschichte hervorgehoben wird. Demnach sind die historischen Zäsuren als ,,Kristallisationspunkte sowohl der biografischen als auch der historischen Sinnbildung" zu interpretieren (S. 508). Dabei weist die Entwicklung der behandelten Politiker im Sinne einer kollektiven ,,Bildungsgeschichte" zahlreiche gemeinsame Bezüge auf - bei näherer Betrachtung lassen sich jedoch deutliche milieu- und geschlechterspezifische Unterschiede erkennen. Konstruiert wird von den Politikern die Geschichte des 20. Jahrhunderts als Abfolge von ebenso raschen wie abrupten Brüchen und Zeitenwenden, vor allem im Hinblick auf die Instabilitäten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zur stärker auf wissenschaftliche Abstraktion setzenden Forschung, die eher die Kontinuitätslinien des 20. Jahrhunderts herausstreicht und etwa der ,,Stunde Null" im Jahr 1945 skeptisch gegenüber steht, kommen hier deutlich differierende Akzente zum Tragen. Zusammenfassend wird von Depkat bilanziert, dass sich in den Autobiografien erhebliche Lern- und Umorientierungserfahrungen der handelnden Politiker widerspiegeln, die es angezeigt erscheinen lassen, die Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts nicht nur als einen Akt alliierter Neuordnungspolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu betrachten. Diese - und zahlreiche weitere - Detailergebnisse bestätigen zum Teil bisherige Forschungserkenntnisse, andere werden aber auch in ein neues Licht gerückt - vor allem im Hinblick auf die Debatten um die Zäsuren des 20. Jahrhunderts und die Wechselwirkungen von individuellem und kollektivem Handeln.

Interessanter aber als die hier nur knapp skizzierten Ergebnisse der Studie erscheinen das Untersuchungsdesign und ihr methodisches Potenzial für die historische Forschung. Zweifelsohne ist es von methodischer Warte aus betrachtet nicht unproblematisch, auf Grundlage einer Auswahl von lediglich 14 Politikern mit unterschiedlichen generationellen Bezügen weitreichende und generalisierende Interpretationen zum allgemeinen Epochenbewusstsein zu treffen, zumal zahlreiche der hier behandelten Politiker auf eine ausgesprochen lange politische Karriere in herausgehobener Position zurückblicken konnten, die für die Politik des 20. Jahrhunderts alles andere als üblich war. Trotz dieser ,,offenen Flanke" gebührt der Arbeit − und ihrem Verfasser − aber der Verdienst, die historische Biografieforschung, die in den letzten zehn Jahren zwar eine kaum mehr zu überschauende Zahl an Darstellungen hervorgebracht hat, die zugleich aber weder in individual- noch in kollektivbiografischer Hinsicht nennenswerte methodische Weiterentwicklungen verzeichnen konnte, ein erhebliches Stück vorangebracht zu haben. Sowohl mit Bezug auf das Potenzial von Autobiografien als auch mit Blick auf die kulturgeschichtlichen Interpretationsmöglichkeiten biografischer Forschung bietet die Arbeit vielfältige Anregungen, die zum Teil da anknüpfen, wo Jochen Loreck und andere Historiker mit ihren Studien zu den Politisierungserfahrungen in der Arbeiterbewegung in den 1970er Jahren methodisch aufgehört haben. (1) Mit seiner thesenstarken Publikation hat Volker Depkat eine äußerst anregende, konzeptionell weiterführende und methodisch anschlussfähige Studie vorgelegt, die der historischen Biografieforschung zahlreiche neue Impulse verleiht.

Jürgen Mittag, Bochum

Fußnoten:


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