Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Giuseppe Berta (Hrsg.), La questione settentrionale. Economia e società in transformazione (Annali Fondazione Feltrinelli, Bd. 41), Feltrinelli Editore, Mailand 2007, 466 S., geb., 60,00 €.
Die ,,Nordfrage" - diesem Thema von ungebrochener Aktualität für die italienische Politik ist der jüngste Band des traditionsreichen Jahrbuchs der Feltrinelli-Stiftung gewidmet. Gemäß dem klassischen Anliegen der Annali-Reihe, sich mit dem Wandel der italienischen Gesellschaft in sozialgeschichtlicher und wirtschaftshistorischer Sicht anzunähern, versammelt der vorliegende, von Giuseppe Berta herausgegebene Sammelband zwölf Beiträge, die mit unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte und Gegenwart des italienischen Nordens in den Blick nehmen. Die questione settentrionale erscheint dabei als Chiffre für ein vielschichtiges Phänomen, das historisch gewachsene Besonderheiten sowie ihre Bedeutung in der Gegenwart umfasst - so zum Beispiel die regionalen Ungleichzeitigkeiten und Ungleichgewichte des italienischen Industrialisierungsweges, aber auch die aktuelle politische Frage nach der Bedeutung des Nordens für Italien und nach der Beziehung der nördlichen zu den südlichen italienischen Regionen. In diesen Zusammenhang gehören auch die Aktivitäten der Lega Nord als einer politischen Bewegung, die seit den frühen neunziger Jahren für eine Unabhängigkeit der sogenannten Padania agitierte, indem man den Norden als Zugpferd für die Entwicklung Gesamtitaliens interpretierte, dessen Potenzial von tendenziell ineffizienten, lähmenden Verwaltungsstrukturen eines tendenziell rückständigen Restitaliens behindert sei.
Entsprechend der Verbindung aus historischen und aktuellen Bezügen bietet der Band eine interdisziplinäre Gesamtschau - mit Beiträgen an der Schnittstelle zwischen historischen und ökonomischen Wissenschaftsdisziplinen, wobei sich die Mehrheit der Beiträge auf die jüngere Vergangenheit - d.h. auf die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte - konzentriert. Angesichts des begrenzten Umfangs dieser Rezension können an dieser Stelle die Erträge der einzelnen Studien nur punktuell angerissen werden, so dass im Folgenden die zentralen Entwicklungslinien im Mittelpunkt stehen sollen.
Die anregende Einleitung des Herausgebers spürt zunächst dem vieldeutigen und bisweilen widersprüchlichen Prozess des Strukturwandels nach, der Norditalien in den letzten Jahrzehnten verändert hat und bündelt dabei die wichtigsten Fluchtpunkte der questione settentrionale. Das ,,industrielle Dreieck" zwischen Mailand, Genua und Turin, das in den Wirtschaftswunderjahren das ökonomische Profil Italiens nachhaltig bestimmte, hat im ausgehenden 20. Jahrhundert seine charakteristische Gestalt zunehmend transformiert. Neue ökonomische Akteure rückten in den Vordergrund, die im Zuge der zunehmenden Bedeutung des tertiären Sektors auf einem veränderten Markt- und Arbeitsumfeld, in gewandelten urbanen Milieus, vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Stadt-Land-Beziehung agierten und neue Kooperationsformen praktizierten, so dass in einigen Segmenten flexible, projektorientierte, zum Teil netzwerkartige Strukturen entstanden sind.
Einen originellen Auftakt des Bandes bildet das Interview des Pisaner Historikers Luciano Cafagna, der mit an sich selbst als zeitgenössischen Beobachter gerichteten Fragen den Diskussionszusammenhang rekonstruiert, in dem die questione settentrionale in der politischen und kulturellen Öffentlichkeit aufkam - und damit mit dem Vorurteil aufräumt, es handele sich um einen Begriff, der im Zuge der politischen Krise der neunziger Jahre erstmalig formuliert wurde. So macht die Rekonstruktion des politischen und kulturellen Diskurses deutlich, dass schon seit den ausgehenden fünfziger Jahren eine Variante der Nordfrage als Gegenstück zur questione meridionale - d.h. der Entwicklungsproblematik des Südens -an Konturen gewonnen hatte. Gleichwohl war die Diskussion über regionale Ungleichgewichte in den frühen Jahren unter grundlegend anderen - kapitalismuskritischen - Vorzeichen geführt worden, war die frühe Formel der questione settentrionale, und das ist ein wesentlicher Unterschied zu den jüngeren Debatten, nicht von einem ,,Anti-Meridionalismus" getragen.
Entscheidende Entwicklungspfade Norditaliens nehmen Giorgio Bigatti und Marco Meriggi in den Blick. Dabei wird das historisch gewachsene Selbstverständnis einer Region - geprägt von Wanderungsbewegungen, die das Stadt-Land-Gefüge umwälzten - vom ,,Laboratorium der Moderne" bis hin zu den Unsicherheiten eines ,,post-industriellen" Zeitalters nachgezeichnet. Welche Dimensionen der ökonomische Strukturwandel in den letzten drei Jahrzehnten annahm, verdeutlicht der Beitrag von Giampolo Vitali. Eine quantitative Analyse der Beschäftigungsstrukturen sowie der Innovations- und Internationalisierungsstrategien verweist dabei auf eine tendenzielle Einebnung der historisch gewachsenen Besonderheiten des Nordens, was grundsätzlich anhand einer geringeren Konzentration der ökonomischen Aktivitäten in den altindustriellen Gebieten deutlich wird und für den Untersuchungszeitraum zum Teil auch mit dem Nachlassen von alten Führungssektoren (Automobilindustrie) erklärt werden kann. Die Veränderung innerhalb dieses für die nördlichen Industrieregionen so wichtigen Sektors, der Automobilwirtschaft, wird in einem Beitrag von Aldo Enrietti für den Zeitraum von 1991 bis 2006 genauer untersucht. Die quantitativ angelegte Branchenstudie zeigt einen relativen Bedeutungsverlust der nördlichen Regionen als Standorte der Automobilproduktion und unterstreicht grundlegende organisatorische Wandlungen im ökonomischen System insofern, als die Automobil-Komponentenindustrie im Vergleich zur Automobilherstellung an Bedeutung gewann. Dieser Befund mag einerseits einen allgemeinen organisatorischen Trend der Automobilwirtschaft widerspiegeln - den Fokus auf das Kerngeschäft, die ,,schlanke" Produktion und die Auslagerung von Teilen der Wertschöpfungskette. Andererseits wird auch die erfolgreiche Emanzipierung der Zulieferer von dem Automobilproduzenten FIAT deutlich - und dies schon bevor FIAT, der jahrzehntelang als ,,aufgeklärter Despot" (316) in der Piemonteser Automobilwirtschaft agieren konnte, seit 1993 in eine Krise geraten war. Zunehmend konnten sich in norditalienischen Regionen ansässige Zulieferer auch europäische Märkte, vor allem auch den deutschen Markt, erschließen. Einige der Befunde aus der italienischen Automobilwirtschaft erscheinen an andere Bausteine des norditalienischen Strukturwandels anschlussfähig, die in der Gesamtschau der Einzelbeiträge hervortreten: So vor allem der Bedeutungsverlust des Großunternehmens, für das nicht nur das Fallbeispiel FIAT exemplarisch ist, sondern auch - wie etwa die Beiträge von Paolo Bricco und Fabio Lavista zeigen - die Unternehmen Olivetti und Pirelli. Mit dem Niedergang des Großunternehmens ist nicht nur ein Schwund einer Managementkultur verbunden, die bisweilen mit der Nachkriegsprosperität korreliert wird, sondern - wie die Studie von Fulvio Coltori darlegt - auch die Profilierung des mittleren Unternehmens als einem neuen ökonomischen Akteur, der sich mit Nischenstrategien und Qualitätsprodukten seit den 1970er Jahren behauptet.
Gleichwohl bleiben einige Fragen bestehen. So scheint eine wichtige Rahmenbedingung des europäischen Strukturwandels im Untersuchungszeitraum - die Globalisierung der Märkte - zwar in beinahe allen Teilstudien auf, eine systematische Betrachtung der Spannung zwischen lokalem und globalem Handlungsraum findet sich jedoch nur in dem etwas zu umfänglich geratenen Beitrag von Aldo Bonomi über die ,,Wege zum Postfordismus". Aus der Perspektive der nicht-italienischen Leserschaft ist zudem zu bedauern, dass auf englische Abstracts verzichtet worden ist, da der Sammelband eine Reihe von Ansatzpunkten für einen europäischen Vergleich böte. Alles in allem führt der Band mit den weitgehend anregenden Beiträgen zentrale Dimensionen eines Wandlungsprozesses auf instruktive Weise zusammen, der - beginnend in den 1970er Jahren und forciert seit den 1990er Jahren - nach wie vor andauert. Dabei spiegelt die methodische und inhaltliche Heterogenität des Sammelbandes zugleich die Vielschichtigkeit dieser Transformation wider.
Stephanie Tilly, Bochum