ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Anne Klein, Flüchtlingspolitik und Flüchtlingshilfe 1940-1942. Varian Fry und die Komitees zur Rettung politisch Verfolgter in New York und Marseille (Dokumente -Texte - Materialien, Bd. 61), Metropol Verlag, Berlin 2007, 542 S., kart., 24,00 €.

Zeitgleich mit der Ende 2007 in der Akademie der Künste gezeigten Ausstellung des Vereins Aktives Museum Berlin zum 100. Geburtstag von Varian Fry ist diese ,,überarbeitete Fassung" (S. 541) einer im April 2004 im Fachbereich Politikwissenschaften der FU angenommenen Dissertation erschienen; mit einem Beitrag zu ,,Flucht, Migration und Antisemitismus in Frankreich 1939-1941" ist die Autorin auch in dem hervorragenden, zweisprachig deutsch-englischen Begleitband zur Ausstellung vertreten. (1)

Die weit ausgreifende, gründliche Dissertation wertet zahlreiche gedruckte und ungedruckte Quellen aus: Frys Nachlass war ,,eine der wichtigsten Arbeitsgrundlagen" (S. 29); für das Thema relevante Literatur wurde bis zum Erscheinungsjahr 2007 eingearbeitet. Abkürzungsverzeichnis, Kurzbiografien der wichtigsten Akteure, Personenregister und ein Verzeichnis der Organisationen erhöhen noch den Gebrauchswert.

Sechs umfangreiche Abschnitte mit zahlreichen Unterkapitel gliedern das Material. Nach einer Zusammenfassung der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik in den USA und Frankreich (1) werden Gründung und Arbeitsweise des Emergency Rescue Committee (ERC) in New York (2) und der von Varian Fry geleiteten Zweigstelle Centre Américain de Secours (CAS) in Marseille (3) behandelt. Es folgen zwei Abschnitte über die Geschichte der Flüchtlingshilfe, die in zwei Perioden unterteilt sind. In der Zeit bis Juli 1941 (4) liegt der Schwerpunkt auf dem ,klandestinen Netzwerk` (S.251) des CAS, das die Fluchtrouten über die Pyrenäen möglich machte. In der Periode ab Juli 1941 geht es hingegen um die Neuregelung des Einwanderungsgesetzes in den Vereinigten Staaten , die Verhaftung und Ausweisung Frys aus Frankreich im August 1941, die Schließung des CAS-Büros im Juni 1942 und die Deportationen der Juden durch die Vichy-Regierung ab August 1942 (5).

Der sechste Abschnitt schließlich untersucht die, auch durch die unterschiedlichen Lebensrealitäten in New York und Marseille bedingte, Entfremdung zwischen ERC und CAS, die zunehmend zu Missverständnissen führte. Die ausschließlich an sicherheitspolitischen Belangen orientierte Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik, zumal nach Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im Dezember 1941, hatte zur Folge , dass Fry, der im November 1941 in die USA zurückkehrte, durch öffentliche Kritik an der Regierung und sein publizistisches Engagement für eine liberalere Einwanderungspolitik, zum Außenseiter wurde; sein Eintreten für ehemalige Klienten des CAS wirkte sich jetzt sogar negativ aus, weil diese dadurch als ,,politisch besonders verdächtig eingestuft" wurden (S. 422).

In einer abschließenden Würdigung der Flüchtlingshilfe und ihrer Bedeutung für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird die Arbeit Varian Frys und seiner Mitarbeiter als Zeichen für ein ,,neues Verständnis von Solidarität", als ,,gelebte politische Praxis" gewertet (S. 445): ,,Die Flüchtlingshelfer [...] probten den Aufstand des Gewissens gegen die [...] scheinbar übermächtige Zwangsläufigkeit der Geschichte" (S. 453); sie ,,wagten, die eigenen moralischen Wertmaßstäbe zum Maßstab ihres politischen Handelns zu machen" (S. 455) und ,,entschieden sich gegen den Zwang zur Anpassung an vorgegebene Richtlinien und für den Ungehorsam gegenüber gesetzlich reglementierten Prinzipien. Sie verließen sich allein auf ihr eigenes Urteilsvermögen"(S. 456).

Die Rahmenbedingungen, in denen ERC und CAS agierten, vor dem Hintergrund einer Flüchtlingspolitik, die im Gefolge des Ersten Weltkrieges, vor allem aber seit Beginn der dreißiger Jahre fortwährend verschärft wurde, waren freilich schwierig genug: ,,nichts vielleicht", so Stefan Zweig in seinen 1941 abgeschlossenen Erinnerungen ,,Die Welt von Gestern", ,,macht den ungeheuren Rückfall sinnlicher, in den die Welt seit dem ersten Weltkrieg geraten ist, als die Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit des Menschen und die Verminderung seiner Freiheitsrechte. Vor 1914 hatte (man) nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden." (2)

Denn auf die intensivierte Ausbürgerungs- und Vertreibungspolitik des NS-Regimes antworteten die möglichen Aufnahmeländer selbst mit Einschränkungen. So wurde in den Vereinigten Staaten die Zuwanderung aus Europa bis zum Sommer 1941 immer noch durch die Festlegung von - nie ausgeschöpften - Quoten entsprechend der nationalen Herkunft geregelt. Frankreich, das im Frühjahr 1933 großzügig mehr als die Hälfte der 60.000 aus Deutschland Geflohenen aufnahm, führte bereits im Sommer Restriktionen ein, die durch die Volksfront im Mai 1936 zwar gelockert, nach Léon Blums Rücktritt am 8. April 1938 aber wieder drastisch verschärft wurden und in den von der Regierung in Vichy seit 1940 erlassenen antijüdischen Statuten einen traurigen Höhepunkt erreichten.

Der Entscheidung Roosevelts im Juni 1940 für ein Notvisaprogramm, über das abseits der herrschenden Quotenregelung und unter Umgehung des in seiner Mehrheit gegen Erleichterungen bei der Einwanderung eingestellten Kongresses zentral von einem Gremium entschieden wurde, um den nach der Teilung Frankreichs in eine besetzte und eine freie Zone in Südfrankreich (im November 1942 ebenfalls besetzt) gestrandeten verfolgten Intellektuellen, Politikern, Künstlern und Schriftstellern die Einreise in die Vereinigten Staaten zu ermöglichen, kommt deshalb immense Bedeutung zu. Nahezu 3.000 Flüchtlinge wurden als politisch Verfolgte in das Notvisaprogramm aufgenommen; davon warteten freilich im Dezember 1941, sechs Monate nach seiner Beendigung, immer noch etwa ein Drittel auf ihr Visum.

Doch zum 1. Juli 1941 trat, als Folge des am 27. Mai von Roosevelt verkündeten uneingeschränkten Ausnahme- und Notzustandes, eine Neuregelung des Einwanderungsgesetzes in Kraft, die u.a. vorsah, daß Flüchtlinge, die in den Achsenstaaten nahe Verwandte hatten, kein Visum mehr erhalten sollten. Mit dieser - später wieder gelockerten - Verwandschaftsklausel, Ausdruck eines rigiden Sicherheitsdenkens, das ja auch in der immer wieder beschworenen Furcht vor einer ,,Fünften Kolonne" der Nazis seinen Ausdruck findet, war das Ende der kurzen, liberalen Einwanderungsphase gekommen, in der zahlreichen Flüchtlingen, darunter viele prominente Namen, die Flucht nach Übersee gelang.

Die Tätigkeit von ERC und CAS wird in schöner Ausführlichkeit und mit vielen Einzelheiten in allen ihren Verästelungen geschildert. Den Unterschied zu anderen, von humanitären oder religiösen Motiven geleiteten Hilfsorganisationen, die in Südfrankreich arbeiteten, sieht die Autorin vor allem in der ausgesprochen politischen Zielsetzung: Die Mitarbeiter der von Varian Fry im Auftrag des ERC im August 1940 in Marseille gegründeten Beratungsstelle, deren Motivation noch durch die Erfahrung eigener Verfolgung verstärkt wurde, wollten die Situation der gefährdeten Flüchtlinge nicht bloß erleichtern, sondern grundlegend ändern. Sie identifizierten sich mit den Idealen der amerikanischen Demokratie, eines Landes, das ,,Verfolgten Zuflucht gewährte und Freiheit versprach" (S. 158), aber unter den Bedingungen des Zweiten Weltkrieges oft anders handeln zu müssen glaubte.

Die Arbeit versteht sich als ,,ein Beitrag" zu der in Deutschland ,,längst überfälligen" (S. 13) Erinnerung an Varian Fry, und sie möchte darüber hinaus die von Patrik von zur Mühlen 1992 festgestellte ,,Forschungslücke" zur Flucht- und Flüchtlingshilfe schließen (S. 15). Sie bietet indes weit mehr: eine detaillierte und umfassende Gesamtdarstellung, die auf breiter Materialbasis das komplexe und einander bedingende Gefüge aus staatlichem, gesellschaftlichem und individuellem Handeln, mit dem sich ERC und CAS auseinandersetzen mussten, beschreibt, analysiert und würdigt. Sie ist - zusammen mit dem eingangs erwähnten Begleitband zur Ausstellung - für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema unverzichtbar.

Theo Meier-Ewert, Berlin

Fußnoten:


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