ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Isabelle von Bueltzingsloewen, L'hecatombe des fous. La famine dans les hopitaux psychiatrique français sous l'Occupation (Collection historique), Aubier, Paris 2007, 512 S., kart., 22,00 €.

Im besetzten Frankreich sind zwischen 1940 und 1944 ca. 45.000 Psychiatriepatienten in den Anstalten an Hunger gestorben. Der Hungertod vieler Tausender von Anstaltsinsassen wurde unmittelbar nach Ende des Vichy-Regimes 1944 bekannt. Erst im Sommer 1946 jedoch legten die Psychiater Lucien Bonnafé und Georges Daumézon auf einem Kongress erstmals konkrete Schätzungen über das Ausmaß des Hungertodes in den Anstalten vor. Ihre Schätzung von 45.000 verhungerten Psychiatriepatienten galt bis 1991 als eine feste Größe in der wissenschaftlichen Literatur, bis sie im selben Jahr von den beiden Historikern Olivier Bonnet und Claude Quétel überprüft wurde. Ihre Auswertung von nach dem Krieg rekonstruierten Statistiken kam zu dem Befund von 76.327 Verstorbenen in den Anstalten zwischen 1940 und 1944. Bereits 1987 war der ebenfalls aus Lyon stammende Psychiater Max Lafont mit der These vom ,,sanften Tod" von über 40.000 Anstaltsinsassen der Psychiatrie 1940 bis 1944 an die Öffentlichkeit getreten. 1998 dann vertrat der Psychiater Patrick Lemoine aus Lyon im Vorwort zu seinem historischen Roman über zwei junge Pfleger im psychiatrischen Krankenhaus von Vinatier die These, dass der Hungertod Tausender Insassen vom Vichy-Regime absichtlich herbeigeführt worden sei und dass die Anweisung dazu aus Berlin gekommen sein könnte. Da der Roman von Lemoine 1998 mit zwei wichtigen französischen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde und da Lemoine sein Vorwort mit einem dokumentarischen Anhang sowie einer Bibliografie ausgestattet hatte, erreichte seine These nicht als Fiktion, sondern mit wissenschaftlichem Anstrich die Öffentlichkeit. Sie provozierte eine hitzige Debatte unter den französischen Psychiatern.

Die Autorin betont die Unvergleichbarkeit der im Raum stehenden Zahlenangabe, denn die 1991 von Bonnet und Quétel konstatierten 76.327 Toten beziehen sich auf alle in den Anstalten Verstorbenen. Hier Klarheit zu schaffen, ist das Anliegen der Historikerin von Bueltzingsloewen. Aber es geht ihr nicht nur um die numerische Klärung, sondern sie formuliert ihre Fragestellung in Abgrenzung zur polemischen Diskussion in Frankreich bewusst weit. Sie untersucht, wie es möglich sein konnte, dass so viele Insassen der Psychiatrie an Hunger starben.

Die Tatsache, dass es keine schriftlichen Zeugnisse in den Archiven gibt, die darauf schließen ließen, dass das Massensterben in den französischen Anstalten von deutschen Stellen beeinflusst war, ist, so die Autorin, noch kein Beleg dafür, dass es diese Verbindungslinien nicht gegeben hat. Bekanntlich wurde in Deutschland die Aktion T 4 nach Protesten der Kirchen 1941 eingestellt und anschließend dezentral in den Anstalten weiter getötet - statt durch Gas, nun weniger auffällig durch Entzug von Nahrungsmitteln.

Bueltzingsloewens These lautet jedoch dahingehend, dass die französischen Psychiatriepatienten keinen von langer Hand geplanten, vorsätzlichen Hungertod starben. Als ausschlaggebenden Beleg führt die Autorin ein Rundschreiben des Ministeriums für Familie und Gesundheit der Vichy-Regierung vom Dezember 1942 an, das die Nahrungsmittelrationen für Insassen psychiatrischer Kliniken erhöhte. Über die Gründe für diese Entscheidung zu einem Zeitpunkt, als die Lebensmittelknappheit in Frankreich einen Höhepunkt erreicht hatte, geben die Quellen - so die Autorin - keine Auskunft. Zu vermuten ist jedoch, dass sich der im September 1942 an die Spitze des Ministeriums für Landwirtschaft und Versorgung gerückte Sozialist Max Bonnafous persönlich für das Schicksal von Anstaltsinsassen eingesetzt hat und die treibende Kraft hinter dem Erlass war. Die Autorin untersucht im Detail, ob und wie die Erhörung der täglichen Ration um ca. 220 kcal tatsächlich bei den Insassen angekommen ist.

Dabei gelangt sie zu einem Befund, der charakteristisch für die Lage der psychiatrischen Anstalten in Frankreich war und diese Untersuchung wie ein roter Faden durchzieht: Die regionalen Unterschiede lassen keine verallgemeinernde Aussage über die Anstalten zu. Die Versorgung mit Lebensmitteln hing nicht nur von den Anstaltsleitern und ihrem Einsatz bei den regionalen Behörden ab. Sie war weit mehr bestimmt von der Verfügbarkeit landwirtschaftlicher Ressourcen der Anstalten selber und davon, ob diese in einer eher dörflichen oder städtischen Umgebung lag. Den Anstalten in ländlichem Umfeld ging es deutlich besser als den städtischen, denen sich, ähnlich wie der Bevölkerung dort, nur wenig Möglichkeiten der Selbstversorgung boten.

Die französischen Anstalten unterstanden bis 1968 den Departementalverwaltungen. Sowohl die Frage nach Stadt- oder Landlage der Anstalt, als auch die nach Zusammensetzung der Insassen, nach Größe, Statut - staatlich, konfessionell oder privat, war dafür verantwortlich, dass es zu großen Unterschieden der Sterblichkeitsraten in den Anstalten kam. Die Ursachen für das Sterben in den Anstalten sieht die Verfasserin in der besonderen Situation des Krieges und der psychiatrischen Kliniken gleichermaßen. Unter Kriegsbedingungen mussten sich die Anstalten, sofern sie nicht über eigene wirtschaftliche Ressourcen verfügten, auf eine Rationierung der Lebensmittel und auf Schwarzmarktgeschäfte einlassen. Die Insassen waren in der Tat häufig aus der Gesellschaft Ausgeschlossene, nicht nur infolge des Krieges, sondern aus familiären oder krankheitsbedingten Gründen abgeschnitten von Kontakten zu ihren Angehörigen, die sie mit zusätzlichen Lebensmitteln hätten versorgen können. Ein weiterer Grund, warum Psychiatriepatienten unter den kriegsbedingten Restriktionen stärker zu leiden hatten als die Patienten allgemeiner Krankenhäuser, lag nicht zuletzt am schlechten Image dieser Kranken im Vergleich mit somatisch Kranken. In ihrem Schlusswort macht die Autorin die damals gängige Praxis, psychisch Kranke aus ihrem familiären Umfeld zu lösen und stationär unterzubringen, für die verhängnisvolle Entwicklung der Psychiatrie unter der Vichy-Regierung verantwortlich. Sie findet dafür die treffende Formulierung vom sozialen Tod, der dem Hungertod vorausging.

Die Vielfalt der Anstalten erschwerte die Recherche für diese Arbeit, die sich hauptsächlich auf Berichte der Anstaltsleiter an die Präfekten, die Protokolle der Aufsichtskommissionen der Anstalten sowie dem allgemeinen Schriftverkehr der Anstaltsleitung stützen. Die Verfasserin hat sich in verdienstvoller Weise durch die wissenschaftliche Literatur zum Thema Unterernährung und Tod durch Hunger gearbeitet.

Die aufwendige Recherche hat zahlreiche Quellen zutage gefördert, die es der Autorin erlauben, in ihre Studie immer wieder Patientenschicksale mit einzuflechten. Am Ende eines jedes großen Kapitels dokumentiert sie zwei Einzelschicksale. Darüber hinaus veranschaulicht sie ihre Befunde innerhalb der einzelnen Kapitel durch Einzelfälle, etwa indem sie aus Briefen ehemaliger Psychiatriepatienten oder ihrer Angehörigen zitiert. Recht ausführlich geht die Autorin auf das Schicksal der Bildhauerin Camille Claudel ein, die, völlig isoliert von ihrer Familie und ihrem Geliebten, dem Bildhauer Auguste Rodin, mehrere Jahrzehnte bis zu ihrem Tod 1943 in psychiatrischen Anstalten verbrachte und damit beispielhaft für das Schicksal vieler Psychiatriepatienten steht. Auf oral history musste die Verfasserin verzichten. Von den ehemaligen Klinikdirektoren der am stärksten von der Hungersnot betroffenen Anstalten waren fast alle verstorben. Aus ethischen Gründen sah die Autorin davon ab, Angehörige ehemaliger Patienten zu befragen. Noch lebende Patienten ließen sich nicht ausfindig machen.

Zahlreiche Fotos bereichern die Studie. Darunter befinden sich auch erschütternde zeitgenössische Aufnahmen von knapp dem Hungertod entgangenen Insassen aus den Jahren 1941 und 1944. Grafiken zur Sterblichkeitsrate in den Anstalten beschließen den Band, der überzeugend wissenschaftlichen Diskurs und quellengestützte Rekonstruktion historischer Abläufe verbindet. Daher wünscht man dieser Studie möglichst viele Leser unter deutschen Historikern, die sich mit der NS-Zeit beschäftigen.

Elke Hauschildt, Koblenz/Hamburg


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