Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Lothar Fritze, Verführung und Anpassung. Zur Logik der Weltanschauungsdiktatur (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; 133), Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2004, 229 S., brosch., 64,00 €.
Bei dem zu besprechenden Werk des Historiker Lothar Fritze handelt es sich um eine Sammlung von insgesamt sechs Aufsätzen und Vorträgen, die Lothar Fritze, Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, zum Teil bereits an anderer Stelle veröffentlicht hat. Darüber hinaus ergänzen den schmalen Band zwei Interviews zum Thema, die der Autor Ende der 90er Jahre gegeben hat, sowie ein recht ausführliches Literaturverzeichnis. Allen Beiträgen eigen ist dabei der gleichsam existenzphilosophische Zugang Fritzes zum Phänomen der linken wie rechten Weltanschauungsdiktaturen, die ihre Anziehungskraft aus ,,der Konstitution des Menschen, seines In-die-Welt-geworfen-Seins und der daraus resultierenden Probleme der Daseinsbewältigung" (S. 7) zögen. Integraler Bestandteil dieser Konstitution sei ein tiefes Sinnbedürfnis, das in früheren Zeiten häufig ganz selbstverständlich von Religionen erfüllt worden sei. Im zwanzigsten Jahrhundert aber habe der Abfall vom Glauben bei vielen Menschen ein geistig-seelisches Vakuum hinterlassen, das die totalitären Ideologien zu füllen schienen.
Im ersten Beitrag ,,Herrschaft und Konsens - Über Anziehungskraft und Stabilität von Weltanschauungsdiktaturen" umreißt Fritze weitere anthropologische Grundbedürfnisse, die zu erfüllen totalitäre Regime vorgeben: Daseinsbewältigung und Reproduktionschancen, gesellschaftliche Anerkennung und gemeinsames Glück. Der Verstand verleiht den Menschen dabei die Fähigkeit zur Planung, lässt ihn aber auch nach Sinn suchen. Am ,,lebenden Objekt" nachvollzogen wird diese Suche im folgenden Beitrag ,,Glaube und Gewissheit - Über die Bekehrung zur Weltanschauungsdiktatur". Dort zeichnet Fritze den Weg Artur Koestlers vom Suchenden zum Kommunisten nach.
Im Abschnitt ,,Bevormundung und Demotivation - Über Charakteristika einer einst realen Weltanschauungsdiktatur" kommt Fritze zu einer Betonung - vielleicht sogar Überbetonung - der konsumptiven Bedürfnisse des Menschen. Diese seien im Einzelfall sogar ,,ausschlaggebend" für den Willen zu einem politischen Systemwechsel, meint Fritze mit Blick auf das Beispiel DDR. In diesem Zusammenhang äußert er sich zudem skeptisch mit Blick auf die heutigen ,,Chancen" von Weltanschauungsdiktaturen: Totalitäre Herrschaft im engeren Sinne sei in Zeiten der grenzübergreifenden Massenkommunikationsmittel kaum mehr realisierbar, die Versprechen leistungsfähiger marktwirtschaftlicher Ökonomien erreichten potenziell alle Menschen.
Der Artikel ,,Alltag und Anpassung - Über die Lebenswirklichkeit in einer Weltanschauungsdiktatur" versucht am Beispiel der DDR aus der Perspektive der Herrschaftsunterworfenen Gründe für mehr oder minder angepasstes Verhalten zu finden. Eine nahezu ausschließliche Fixierung auf den Repressionsgehalt der SED-Diktatur habe nämlich ,,nicht nur den Nachteil, dass viele sich und ihr Leben in diesen Beschreibungen nicht wiederfinden, sondern steht darüber hinaus in der Gefahr, ein Zerrbild vom Leben in der DDR zu entwerfen, welches seinerseits zu Fehlbeurteilungen des Verhaltens der Menschen Anlass geben kann." (S. 86) Vielmehr schenkt Fritze der Alltagsnormalität erhöhte Aufmerksamkeit, denn ,,kein modernes soziales System wird sich (ohne massiven Terror zu praktizieren) über Jahrzehnte stabil halten, das seinen Bürgern keinen erträglichen Lebensalltag, keine Privatsphäre und kein Gefühl der Sicherheit bietet." (S. 88) Die SED-Herrschaft gerann für die Bürgerinnen und Bürger zur selbstverständlichen, normalen Macht, die umgekehrt allerdings auch nur von begrenzter Reichweite war. Die Vorstellung einer ,,Totalprägung durch das System" (S. 111) jedenfalls lehnt Fritze ab. Und damit freilich auch die Vorurteile, die DDR-Bürgern auch heute noch gerne entgegenschlagen: Sie als gedemütigt, kriecherisch, angepasst zu bezeichnen, sei ,,eine schäbige Missdeutung, die die Schwierigkeiten eines Lebens in der Diktatur zum Anlass nimmt, die Menschen, welche ihr unfreiwillig unterworfen waren, zu desavouieren und ihr Selbstwertgefühl zu untergraben." (S. 120)
Unter der Überschrift ,,Zusammenbruch und Untergang - Ursachenanalyse und Erklärungsansätze zum Verschwinden einer Weltanschauungsdiktatur" sammelt Fritze knapp 20 Deutungsstrategien des Scheiterns der DDR - die mono- und die multikausale, die systemimmanente und die kontingente und so fort. Die Lektüre dieser notwendigerweise sehr theoretischen Abhandlung ermüdet den Leser über kurz oder lang; das Fazit Fritzes konsterniert ihn: ,,Meine These lautet: Die SED hat in dieser Beziehung herrschaftstechnisch versagt. Eine größere soziale Differenzierung, verbunden mit differenzierten Aufstiegs- und Lebenschancen (allerdings auch unter Inkaufnahme, dass einzelne scheitern) hätte sich herrschaftsstabilisierend ausgewirkt." (S. 173) Eine bemerkenswerte Einschätzung, die nahe legt, die DDR hätte überlebt, wenn sie nur gleichsam ein bisschen bundesrepublikanischer geworden wäre. Ein kaum realistisches Szenario, dass die Selbstaufgabe der ideologischen Legitimität des Regimes bedeutet hätte.
Auf wenigen Seiten widmet sich Fritze im letzten Aufsatz ,,Bedeutungen und Beurteilungen - Über paradoxe Zumutungen nach dem Ende einer Weltanschauungsdiktatur". Darin bemängelt er die ,,Kommunikationsstörungen" (S. 182) zwischen Ost- und Westdeutschen, die sich in zahlreichen Widersprüchen zwischen der Realität eines Lebens unter der SED-Diktatur und den retrospektiven Erwartungen, die man im nachhinein an das Verhalten der Menschen stellt, spiegeln. Ohne Rücksicht auf die - oder auch nur Berücksichtigung der - Schwierigkeiten, ein Leben unter einer Diktatur gelingend zu gestalten, gelte der Ostdeutsche häufig als angepasst bis hin zur Unterwürfigkeit, obwohl gleichzeitig ebenso häufig der totalitäre Zwangscharakter des Regimes, das einem kaum Luft zum Atmen ließ, herausgestrichen wird. Es handelt sich dabei um ,,sich widersprechende Behauptungen und Erwartungen, die bei ihrem gleichzeitigen Auftauchen im pluralistischen Meinungswirrwarr vom früheren DDR-Bürger als ungerechtfertigte Bewertung seiner selbst oder als paradoxe Verhaltenszumutungen reflektiert werden." (S. 187)
Den Band runden zwei Interviews mit dem Autor ab. In ,,Was von der DDR bleibt" und ,,Die Verführungskraft des Totalitarismus" plädiert Fritze abermals für eine anthropologische Sicht auf die Weltanschauungsdiktaturen, die in seinen Augen das Zentralproblem des modernen Menschen, seine defizitäre Befindlichkeit, aufgreifen: ,,Sie sind insbesondere in der Lage, Menschen auf innerweltliche Ziele zu orientieren und geradezu quasi-religiös zu motivieren. Darin liegt ihre Anziehungs- und Verführungskraft." (S. 205)
,,Verführung und Anpassung" ist ein gut gewählter Titel für die Abhandlung. Fritze zeigt in seinen Ausführungen, dass totalitäre Ideologien als ,,politische Religionen", die glühende Verfechter finden, wirken können, macht aber auch deutlich, dass beim großen Teil der totalitärer Herrschaft unterworfenen Bevölkerung der verständliche Wunsch des Über-die-Runden-Kommens dominiert. Auf der Strecke bleibt dabei freilich das entscheidende extremistische Moment jedes Totalitarismus, von Gewalt und von Gewalttätern jedenfalls ist in Fritzes Buch selten die Rede.
Peter Kox, Bonn