ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Martina Heßler, Die kreative Stadt. Zur Neuerfindung eines Topos (Urban Studies), Transcript Verlag, Bielefeld 2007, 364 S., kart., 29,80 €.

Wie hängen Technik, Wissenschaft und Lokalgeschichte zusammen? Martina Heßler rekonstruiert in ,,Die kreative Stadt. Zur Neuerfindung eines Topos" die Verwandlung dreier süddeutscher Orte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die drei Gemeinsamkeiten der Orte: Sie liegen im Umfeld Münchens, sie beherbergen Schlüsseltechnologien und transformieren sich zu ,Wissenschaftsstädten'. Heßler fokussiert das Wechselspiel von Wachstum der Orte, Ansiedlung von Technologien sowie der Produktion von Wissen und Kreativität. Mittels Analyse der überregionalen Stadtplanungs-, Technologie- und Kreativitätsdiskurse, lokaler Quellen wie Archivmaterial, Geschäftsberichten, grauer Literatur, sechs Interviews und einem Fragebogen zeigt sie, dass sich diese Zusammenhänge auf zwei Ebenen abspielen: einer konzeptuell-planerischen sowie einer des tatsächlichen Geschehens vor Ort.

Heßler plädiert mit Karl Schlögel für eine ,,Geschichtsschreibung aus der Perspektive des Ortes" (S. 321), die ,,das Nebeneinander der Zeiten, die mannigfachen Ungleichheiten sowie Verflechtungen und Verbindungen scheinbar getrennter Entwicklungen" (S. 12) aufzeigen soll. Sie erforscht, wie die verschiedenen Geschichten der Hochtechnologien, der Wissensproduktion, der Stadtplanung sowie der Aneignung von Gebautem, ineinander und aneinander vorbei spielen. Auf diese Weise werden die Orte in ihrer Mehrstimmigkeit zum Sprechen gebracht. Aufschlussreich ist, wie Heßler Zeitzeugeninterviews mit den Aussagen von Bürgerinitiativen, Bürgermeistern und Geschäftsführern, mit Pressemitteilungen, Chroniken, Denkschriften von Interessensgruppen sowie den Handlungen überregionaler Akteure und den lokalen Vertretern von Anwohnern kontrastiert: Das Thema der Deckung und Nicht-Deckung von Geplantem und Geschehenem begleitet den Leser durch die Arbeit und wird durch die Analysemethode ,sichtbar' gemacht.

Heßler handelt den Wandel der Orte in drei Blöcken ab, dessen Ausgangspunkt jeweils die Niederlassung einer Hochtechnologie verkörpert, die eng an die Wissenspolitik der Stadt München gekoppelt ist. 1957 eröffnet Garching seinen ersten Atomreaktor, 1973 lässt sich in Martinsried das Max-Planck-Institut für Biotechnologie nieder und mit der Ansiedlung von Siemens gründet man 1975 die Forschungsstadt Neuperlach. Durch ihre zeitliche Versetzung wirkten diese Prozesse aufeinander. Heßler stellt heraus, wie bei der Orientierung an Garching bei der Planung von Martinsried einerseits die Vorläufertransformation als Vorbild gehandelt wird, andererseits negative Erfahrungen Einfluss auf lokale Widerstandsbewegungen und den Kommunikationsstil öffentlicher Institutionen ausübt. In Perlach ängstigte man sich vor einem ,,unnötig(en) Anwachsen der Gastarbeiterzahl" sowie einer ,,gefährlichen und extremen Veränderung der Sozialstruktur" (S. 275) durch den Anbau von Neuperlach. In Garching wurden Forscher und Dorfbewohner planerisch separiert, so dass Begegnungen der Bevölkerungsgruppen kaum stattfanden und gegenseitiges Verständnis nicht wachsen konnte. Gleichzeitig übervölkerten die neuen ,,Akademiker" das vorherige Dorf; auf Elternabenden, im Vereinsleben und in der Gemeindepolitik, deren Unmut wiederum aus der schlechten infrastrukturellen Anbindung zu Kultur und Konsummöglichkeiten von München entsprang.

Es fällt auf, dass in den Diskursen die Paradigmen von Stadtplanung und den Idealen der Wissensproduktion Hand in Hand gingen. In den 1950er und 1960er Jahren separierte man Stadtfunktionen genauso wie einzelne Forscher bzw. Forschungsthemen - materiell, durch gebaute Isolation. Nach der Welle der Suburbanisierung der Städte folgte seit den 1970er und verstärkt den 1990er Jahren das Leitbild der Integration: auf Seiten der Stadt das räumliche Ineinander der Stadtfunktionen, auf Seiten der Wissensproduktion die Integration der Köpfe und Disziplinen. Nun sollte spontane Kommunikation ,,gebaut" werden. Eingestreut in die Rekonstruktionen dieser Geschichten diskutiert Heßler, inwiefern der historische Topos der kreativen Stadt in den zeitgeschichtlichen Diskursen im Konzept von Urbanität neu aufgelegt wurde und wie es die symbolischen Akte der Stadtbauer beherrschte. Kern dieses Topos bildet, so Heßler, das Ideal des Ineinanders von ,privat' und ,öffentlich', wie es sich zum einen in der Idealisierung der Agora (z.B. in der Charta von Athen) widerspiegelt. Das ,,Argument räumlicher Nähe" (S. 230) manifestiert sich für Heßler erstens im Paradigmenwechsel der Planungsdiskurse und zweitens in der architektonischen Umsetzung, d.h. der konkreten Organisation von Raum an den drei Orten.

Man ist wenig überrascht von der beobachteten Kluft zwischen Geplantem und Geschehenem. Die erforschten Orte geben Exempel für das Verhältnis von Planung und Realisierung ab: Wie Gebautes tatsächlich genutzt wird, ist nicht programmierbar. Die Geschichte der Dörfer zeigt aus der Retrospektive eindeutig benennbare Fehlplanungen. Die Nutzung von gebauten Integrationszentren des Austausches zwischen Wissenschaftlern, Wirtschaftlern und Dorfbewohnern, z.B. durch das enge Nebeneinander von Büros und Cafés in Martinsried, blieben schlicht aus.

Eine weitere Diskrepanz deckt Heßler im Verhältnis von überregionalem Diskurs und dem uneinheitlichen, symbolischem Geschehen vor Ort auf. Im Gegensatz zu den Planern aus Politik und Wirtschaft verhielten sich die ,,Dorfbewohner" wenig beeindruckt sowohl von positiven wie negativen Technikeinschätzungen der jeweiligen Diskurse, deren Einschätzung selbst ambivalent und von Schwankungen durchzogen war. Wie Heßler rekonstruiert, hatten diesbezüglich vor allem Technikkatastrophen (Tschernobyl) bzw. Medienereignisse sowie politische Debatten (die Gründung der ,,Grünen") einen starken Einfluss. Heßler zeichnet detaillierte Bilder der drei lokalen Auseinandersetzungen: Die verantwortlichen Politiker tendierten zu einem Technikoptimismus in der Erwartung auf wirtschaftliches Wachstum, die Einwohner schwankten zwischen dem Glauben in das Versprechen auf neue Arbeitsplätze und der Skepsis gegenüber den strukturellen Veränderungen ihrer gewohnten Umgebung. Nüchternes Ergebnis der Analyse: die Momente des aktiven Protesthandelns und Hinterfragens sind durch den lokalen Horizont geprägt - von der Sorge um den Schrebergarten und das Grundwasser, um die Schulpolitik, verkoppelt mit dem Widerstreben, den eigenen Boden an Fremde zu verkaufen und Irritationen gegenüber dem fremden Wohnungsbau der neuen Infrastruktur. Die Interpretation zeitgeschichtlicher lokaler Akten zeigt, wie weit die Macht der Bürger reicht: Sie konnten Überformung und Ansiedlung nicht verhindern, aber doch hinauszögern, brachten Gemeindepolitiker in Bedrängnis und haben insofern Anteil an der häufigen Revidierung der Planungskonzepte.

Während Heßler somit auf der empirischen Ebene neue Ergebnisse und interessante Aspekte der jüngeren Zeitgeschichte hervorbringt, bleibt der Argumentationsgang zeitweilig unübersichtlich. Ihr gelingt es, das Zusammenspiel der drei Diskurse (Stadt, Forschung, Technikbewertung) mit den spezifischen lokalen Bedingungen, Spielräumen und Widerständen am Beispiel der bayerischen Kleinstädte nachzuzeichnen. Die argumentative Zusammenschau der differenten Dokumente fordert dem stadtgeschichtlich ungeübten Leser zwar Geduld ab, wird letztlich jedoch belohnt mit einer klaren Einsicht in lokalzeitgeschichtliche Zusammenhänge.

Meiner Ansicht bedarf es weiterer Theoretisierung, so dass deutlich wird, in welcher Weise die Geschichten konkreter Orte mit der nationalen respektive internationalen Geschichtsschreibung zusammenhängen. Schreibt man eine ,,Geschichte vom Ort aus"- um den Überlappungen mehrerer Räume an einem Ort gerecht zu werden - muss das Verhältnis von lokaler Positivität und trans-örtlichem Sinn erörtert werden. Heßlers Arbeit bietet hier, im Diskussionszusammenhang des ,,spatial turn" stehend, eine materialitätsgesättigte Geschichtsschreibung der Tatorte, wie sie von Karl Schlögel, Helmuth Berking, Martina Löw u.a. vor einigen Jahren angeregt wurde.

Suzana Alpsancar, Darmstadt


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